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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott
Autoren: Mark Lilla
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orthodoxen Christen- oder Judentum abgewandt hatten und es begrüßten, dass die alten politischen Theologien, die Tyrannei und Rückwärtsgewandtheit unterstützt hatten, unter dem Ansturm ihrer Kritiker zusammengebrochen waren. Sie standen ganz hinter der Großen Trennung – und begannen sie sogleich zu untergraben. Dieser Prozess ging langsam vor sich. Er erwuchs aus dem verständlichen Bedürfnis, der Religion zu geben, was der Religion ist. Aus dem Wunsch heraus, all das anzuerkennen, was der Mensch ausdrückt, wenn er sich über Gott, die Welt und sich selbst Gedanken macht. Rousseau zufolge war dies nötig, wenn die moderne Gesellschaft das, was die Religion zu einem guten menschlichen Leben beitragen könne, bewahren und deren politische Funktion unverändert erhalten wolle.
    Dies war ein edles Unterfangen, das seine Wurzeln jedoch in weitaus niedrigeren Instinkten hatte: dem Wunsch, sich das Beste beider Welten zu sichern. Im Gefolge Rousseaus breitete sich die fantastische Vorstellung aus, die Politik könne weiterhin mit den großen Themen des Glaubens verbunden bleiben – Schöpfung, Sterblichkeit, die Seele, das Heilige, das Ende der Zeiten –, ohne die Prinzipien der Großen Trennung aufs Spiel zu setzen. Dies war vor allem im Deutschland des 19. Jahrhunderts der Fall. Ein theologisch-politischer Taschenspielertrick unterstützte dieses Denken: Man interpretierte den biblischen Glauben als Ausdruck des religiösen Bewusstseins und als soziale Interaktion, nicht als Beziehung zu einem offenbarten Gott. Doch am Ende erfuhr die politische Theologie eine Wiedergeburt, wenn auch in moderner, »liberaler«, scheinbar gezähmter Form. Sogar heute wirkt dieser Gedanke auf uns erstaunlich attraktiv. In der neuen Liberaltheologie vermählten sich die romantische Gefühlswelt und die moderne Überzeugung, dass der Mensch nur dann glücklich werden könne, wenn er selbst seine Fähigkeiten entwickle, nicht, wenn er diese Gottes Autorität unterwarf. Religion wurde, rational und moralisch reformiert, als sozial nützlich bezeichnet, eine Quelle des Trostes in einer Welt voller Neid und Konsum. Doch am Ende tat die liberale Theologie nur, was alle politischen Theologien am Ende tun: Sie rechtfertigen die aktuelle Praxis. Sie kleben Gottes Gütesiegel auf den modernen europäischen Staat.
    Wie simpel Hobbes’ Religionspsychologie auch gewesen sein mochte, sie war dazu gedacht, eben diesen Rückfall in die politische Theologie zu verhindern. Eine von Hobbes’ grundlegenden Einsichten, die der liberal-demokratischen Tradition zugrunde liegen, war: Politisches Denken und Handeln kann durchaus auf das Problem der Kontrolle religiöser Affekte begrenzt bleiben. Für Hobbes war die Politik ein gefährliches Geschäft, ein Schlachtfeld, auf dem die bescheidenen Güter des Lebens – Seelenfrieden, Wohlstand, Anstand – stets bedroht wurden durch Menschen, die aus angeblich göttlicher Inspiration heraus nach höheren Gütern trachteten und anderen ihre Überzeugungen aufoktroyierten. In der Politik nach Hobbes’schem Muster aber ging es nicht um das höchste Gut für den Menschen. Vielmehr schien ihm die Politik ein Problem , das sich nur lösen ließ, wenn sie ihre Grenzen akzeptierte und die Affekte in Schach hielt. Hirngespinste von Menschen, die sich in Engel verwandelten oder Gottesstaaten aufbauten, sollten bleiben, was sie sind: Hirngespinste.
    Die liberale Theologie baute auf Hoffnung und Vernunft, nicht auf fiebrige Hirngespinste. Ihr durchaus bescheidenes Streben war es, die ethischen Errungenschaften der Bibel mit der Wirklichkeit des modernen Lebens intellektuell zu versöhnen, statt sich ihr nur anzupassen. Doch der liberale Gott stellte sich als totgeborener Gott heraus, der jenen, die nach der letzten Wahrheit suchen, keine feste Überzeugung einzuhauchen vermochte. Denn was vermochte das moderne Protestantentum der Seele eines Menschen zu bieten, der nach der Einheit mit seinem Schöpfer strebt? Es schrieb ihm einen Katechismus voller moralischer Gemeinplätze vor, bedrängte ihn mit einem unglaublichen historischen Optimismus im Hinblick auf das bürgerliche Leben, der mit einem tief greifenden Pessimismus als geschmacksgebender Komponente durchsetzt war, was die Veränderung eben dieses Lebens anging. Es predigte bürgerliches Wohlverhalten und Nationalstolz, gesunden Menschenverstand in Wirtschaftsdingen und die angemessene Bartlänge des Haushaltsvorstands. Doch es brachte nicht den Mut auf, die
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