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Der totgeglaubte Gott

Der totgeglaubte Gott

Titel: Der totgeglaubte Gott
Autoren: Mark Lilla
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Monopol über Religionslehre und öffentliche Gottesdienste. Er hielt es für unmöglich, dass die christlichen Kirchen von innen her reformiert werden konnten. Locke nicht. Er führte viele Streitgespräche mit protestantischen Geistlichen über Themen wie den rationalen Kern des Christentums oder die biblischen Belege für die »natürliche« Überlegenheit des Mannes. Er ging sogar so weit, Toleranz als »das hauptsächlichste Merkmal der wahren Kirche« 28 und »es gibt unter dem Evangelium schlechterdings nichts derartiges wie ein christliches Gemeinwesen« 29 zu betrachten. Ob John Locke an seine theologischen Argumente, die sich im Lauf einer Debatte durchaus mal widersprechen konnten, wirklich glaubte, soll dahingestellt bleiben. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass er zutiefst davon überzeugt war, man müsse die christlichen Kirchen dazu bringen, sich selbst zu liberalisieren, sowohl im Hinblick auf die von ihnen vertretene Lehre als auch auf ihre innere Organisation. In diesem Zusammenhang stellte er eine Forderung auf, die uns heute als selbstverständlich erscheint: Kirchen sind freiwillige Verbände, in denen die Gläubigen sich zum Zwecke des privaten Gottesdienstes zusammengeschlossen haben. Als solche sollten sie auch behandelt werden, und zwar vom öffentlichen Recht ebenso wie vom kirchlichen. »Ja, Gott selbst wird die Menschen nicht gegen ihren Willen selig machen«, meinte er 30 . Außerdem verlangte er, dass Kirchen, wenn sie Toleranz für sich reklamieren, ihrerseits Toleranz gegenüber anderen Konfessionen zeigen und die strikte Trennung von Kirche und Staat akzeptieren müssten.
    Hobbes stand solchen Bemühungen eher skeptisch gegenüber. Er ging vielmehr davon aus, dass Menschen, die sich ganz auf das Leben nach dem Tod konzentrierten und denen man befahl, Heilige und Märtyrer anzubeten, niemals gute Bürger abgeben würden. Wie rational ihr Glaube auch sein mochte, wären sie doch stets anfällig für die Manipulation durch machthungrige Priester. Aus diesem Grund sollte der Hobbes’sche Souverän lehren, dass das Königreich Gottes auf Erden läge, nicht im Himmel. Locke hingegen, der die Staatsreligion in seinen Schriften quasi abgeschafft hatte, musste sich zu diesem theologischen Streitpunkt nicht äußern. Er und seine Anhänger nahmen einfach an, dass Gedanken über das Leben nach dem Tod sich automatisch auf den sonntäglichen Gottesdienst beschränken würden, wenn die liberale Ordnung das Leben auf Erden erst angenehmer gestalten würde. Sie waren von Hobbes’ allopathischer Therapie überzeugter als Hobbes selbst: In einer Welt, die den Handel ebenso förderte wie bürgerliche Ziele und Lebensgewohnheiten, familiäre Bande, individuelle Verantwortung, Eigentum, Bürgerpflicht und die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, würde den Menschen einfach die Lust vergehen, sich weiter auf Streitereien um das ewige Heil einzulassen.
    Im späten 18. Jahrhundert schrieb Hume bereits so, als habe diese Revolution in der menschlichen Selbstausrichtung schon stattgefunden: »Einer dieser düsteren, spatzenhirnigen Eiferer mag nach seinem Tod einen Platz im Heiligenkalender bekommen, doch zu Lebzeiten wird niemand ihn in Gesellschaft und Partnerschaft akzeptieren, außer er wäre ebenso verrückt und trübsinnig wie er selbst.« Zölibat, Fasten, Selbstkasteiungen, Demut und andere »mönchische Tugenden« mögen in einer Welt interessant sein, die glaubt, das Leben finde anderswo statt und unsere irdische Existenz sei nur die Veranda zu einem »größeren und völlig verschiedenen Gebäude« 31 , doch die Bürger einer geschäftigen, lebendigen Republik werden solche Menschen meiden. Sie finden keinen Gefallen am Kriegertum, sei es nun militärisch oder geistlich, real oder eingebildet. Sie werden skeptischer im Denken, praktischer im Handeln, weniger stur in ihrer Ethik sein. Sie werden lernen, ihr Leben zu meistern und diese Fähigkeit in anderen schätzen. Sie werden gute Eltern sein, gute Bürger, gute Nachbarn. Und wenn sie einer Kirche angehören, werden sie dies so ähnlich empfinden wie die Mitgliedschaft in einem Club, eine reine Privatsache. Möglicherweise glauben sie an die Erbsünde, die Notwendigkeit der Bekehrung und die Erlösung für die Auserwählten. Doch sie werden ihren Glauben anderen nicht aufdrängen und den Staat nicht nach ihren religiösen Grundsätzen organisieren wollen. Sie werden nicht mehr das Königreich Gottes auf Erden suchen, sondern auf
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