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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten
Autoren: Veit Heinichen
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Hand auf die Lederjacke. »Zuerst das Geld«, sagte sie.
    Der Glatzkopf reagierte nicht darauf. »Zeig sie mir«, sagte er.
    Die Frau auf dem Motorrad öffnete den Reißverschluß ihrer Lederjacke und zeigte auf eine Dokumentenmappe, die sie am Körper trug. Dann streckte sie ihm die Hand hin. »Ohne Geld keine Ware.«
    Der Mann reichte ihr ein Stück Papier, das die schwarze Gestalt jedoch mit einem Kopfschütteln verweigerte.
    »Das Geld befindet sich in einer Reisetasche in der Gepäckaufbewahrung in Trieste Centrale. Das ist der Abholschein.«
    »Es war anders vereinbart.« Brankas Stimme klang hart. »Verarsch mich nicht.«
    Der Fahrer des Kleinwagens beobachtete die beiden und schob seine Hand unter die Jacke. Der Kahlkopf fuchtelte wild mit dem Stück Papier in der Hand und machte vorsichtig zwei Schritte zurück. Branka ließ ihn nicht aus den Augen.
    Irina schaute auf die Kirchturmuhr, ihr Bus sollte längst da sein.
    »Dann eben nicht«, sagte Branka. Als sie den Reißverschluß hochzog, fiel ihr der andere in den Arm. Unvermittelt und hart landete Brankas Linke in seinem Gesicht, aber durch das Motorrad war sie in ihrer Bewegungsfreiheit behindert. Die Reaktion des Kerls war blitzschnell. Mit ausgestrecktem Bein versetzte er ihr einen heftigen Tritt und setzte mit den Fäusten nach. Branka zog die Pistole und stieg ab. Die Aktenmappe fiel in den Rinnstein bei der Haltestelle. Branka zielte auf den Kahlkopf und bedeutete ihm, zum Wagen zu gehen. Ein Zeichen, das selbst ein Kickboxer versteht. Doch dann sah sie, daß auch der Kerl im Auto eine Waffe in der Hand hielt. Dreimal drückte sie ab. Das Seitenfenster des Wagens splitterte, eine Kugel schlug knapp hinter Irina in der Hauswand ein. Sie bemerkte es nicht, ihr Blick folgte dem Bus, der auf den Platz einbog. Langsam ging sie ihm zur Haltestelle entgegen. Die beiden Hunde waren verschwunden und keine der Hausfrauen, die soeben noch ihre Autos entladen hatten, war mehr zu sehen. Der Bus schob sich zwischen Branka und ihre Gegner. Sie sprang aus ihrer Deckung heraus, richtete das Motorrad auf und startete. Das Auto der beiden Glatzen schoß mit quietschenden Reifen davon.
    Als Irina in den Bus stieg, sah sie unter dem Trittbrett die Dokumentenmappe und ein Stück Papier liegen. Und da sie niemanden sah, dem das Zeug gehörte, nahm sie beides an sich. Mit einem Zischen schlossen sich die Türen hinter ihr. Nach wenigen Metern bremste der Bus und ließ einen Wagen der Carabinieri mit heulender Sirene passieren, bevor er seine Fahrt fortsetzen konnte. Irina setzte sich und verbarg ihren Fund unter dem Rucksack auf ihrem Schoß. In einer halben Stunde, wenn sie in der Stadt wäre, wollte sie es sich genauer ansehen. Das Stück Papier, das sie in den Händen hielt, konnte sie gleich identifizieren. Bei ihrer Ankunft in Triest hatte auch sie ihren Rucksack in der Gepäckaufbewahrung abgegeben, bis sie herausgefunden hatte, wohin sie mußte.
    Irina schaute sich unauffällig um, als sie den Bus am Passeggio di Sant’Andrea verließ, doch sah sie keine Autos, die ihr gefolgt waren. Die sonst stark befahrene Straße am Porto Nuovo schien wie ausgestorben unter der Mittagshitze. Irina streifte den Rucksack über und stieg zur Via Locchi hinauf, wo sie mit zwei Schicksalsgefährtinnen ein Zimmer teilte. Sie durfte nicht lange bleiben, weil sie längst auf der Piazza Unità ihr Glück versuchen sollte. Schon oft war sie dort vom Chef kontrolliert worden, der dann den Rucksack durchsuchte, ihre Einnahmen überprüfte und oft genug sofort einzog. Sie mußte zuvor ihren Fund betrachten und verstecken, falls es sich lohnte.
    Hastig stieg sie das dunkle Treppenhaus bis zur Mansarde hinauf und setzte sich atemlos auf ihr Bett. Aufgeregt öffnete sie den Rucksack und zog die Dokumentenmappe hervor. Sie war enttäuscht: Ein Stapel alter Schriftstücke, Fotografien und Dokumente aus der Zeit von 1943 bis 1977, wie sie an den Datierungen erkannte. Meistens Männer in Uniform, manche mit Hakenkreuzen an der Brust, aber auch Zivilpersonen. Irina war ratlos und überlegte, ob sie das Material in den Müll werfen sollte. Dann aber erinnerte sie sich an die Antiquitätengeschäfte im Zentrum. Wenn sie Glück hätte, würde sie dort ein paar Euro dafür bekommen. Den Gepäckaufbewahrungsschein drehte sie lange zwischen den Fingern und entschied dann, am Abend zum Bahnhof zu gehen.
    *
    »Es war nicht meine Schuld«, schrie Branka. Ihre Stimme bebte vor Empörung und Schmerz. Sie
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