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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten
Autoren: Veit Heinichen
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verschlimmert.
    »In Bagnoli sind die Dokumente nicht mehr«, sagte der Boß wütend. »Wir haben alles abgesucht.«
    Branka starrte ihn wortlos an.
    »Wer war in der Nähe. Versuch dich zu erinnern.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Es ging doch alles viel zu schnell...«
    Auf ein Zeichen des Bosses schlug ihr der Gorilla mit der flachen Hand ins Gesicht. Sein goldener Ring riß die Haut auf ihrer Wange auf.
    »Wer war in der Nähe?«
    »Eine Frau, ein Mädchen«, wimmerte Branka. »Mit einem Rucksack.«
    »Beschreib sie! Wie sieht sie aus, was hatte sie an?«
    »Jeans«, stotterte Branka. »Eine blaue Windjacke. Der Rucksack war rosarot. Vielleicht zwanzig Jahre alt. Mehr weiß ich nicht.«
    »Haare?«
    »Bis zur Schulter. Rotbraun. Sie sah aus wie aus dem Osten.«
    »Das ist doch schon etwas. Vergiß nicht, du hast einiges wiedergutzumachen.« Der Boß gab seinem Gorilla einen Wink, und Branka landete unsanft vor der Tür.
    Die Anweisungen, die er seinem Leibwächter gab, waren knapp und deutlich. »Du fährst sofort nach Triest. Stell jemand in den Bahnhof. Besteche den Mann am Gepäckschalter. Wenn diese Frau dort auftaucht, schnappt ihr sie und holt die Papiere zurück. Wer es bis jetzt noch nicht weiß, wird schnell begreifen, was es heißt, Viktor Drakič an der Nase herumführen zu wollen.«
    Er öffnete die Schiebetür, die von seinem Büro auf die weitläufige Dachterrasse führte, und ging hinaus. Das Meer lag ruhig unter der Frühsommerhitze vor der istrischen Kleinstadt Parenzo. Vor vielen Jahren war Viktor Drakič hier noch als Bittsteller aufgetreten und mußte die Preise akzeptieren, die ihm die Mädchenhändler diktiert hatten. Jetzt war er der Boß, und seine ehemaligen Kontrahenten arbeiteten inzwischen für ihn. Oder für überhaupt niemanden mehr.
    Damals hatte für ihn das bequeme Leben für einige Jahre schlagartig aufgehört. Die Flucht aus Triest hatte ihn beinahe das Leben gekostet. Sein Geschäftspartner hatte es nicht geschafft und war in den Trümmern des Schnellbootes verbrannt, mit dem sie gegen die Diga Rizzo gekracht waren, die den neuen Hafen vor Stürmen schützte. Viktor Drakič hatte Schwein gehabt und konnte sich trotz seiner schweren Verletzungen schwimmend in Sicherheit bringen. Und nur mit viel Glück und guten Beziehungen zu den Spezialisten, die sich teuer bezahlen ließen, war er am Leben geblieben. Erst vor einem Jahr hatte er in Istanbul eine neue Niere erhalten und konnte endlich wieder ohne die lästige Dialyse leben. Die Narben der schweren Verbrennungen in Gesicht und Nacken waren in aufwendigen Hauttransplantationen in einer Klinik in Lugano behoben worden. Über Monate war er in Behandlung und außer Gefecht gewesen. Nur Jože Petrovac, zu dessen Vize er aufgerückt war, wußte, wo Drakič steckte. Er finanzierte die Operationen. Zusammen waren sie ein starkes Team. Und sie hatten einen gemeinsamen Feind: Einen Staatsanwalt in Triest und Proteo Laurenti, den Vizequestore, der ihnen noch immer hartnäckig auf der Spur war. Aber Drakič war fest entschlossen, beide irgendwann endgültig auszuschalten. Doch im Moment waren die Dokumente wichtiger. Ob die anderen überhaupt begriffen hatten, daß Branka die Mappe verloren hatte, nachdem alles so schnell gegangen war? Warum sonst hatten sie Branka verfolgt? Wenn es so war, dann konnte Drakič das Spiel fortführen und es ihnen heimzahlen, daß sie ihn hereinzulegen versucht hatten. Und das Geld, das in einer Reisetasche in der Gepäckaufbewahrung des Triestiner Hauptbahnhofes schmorte, wollte er auch haben. Wenn es überhaupt dort lag.

Mia kommt an
    Erschöpft und verzweifelt hatte Mia sich auf das Bett geworfen und war unter Weinkrämpfen eingeschlafen. Sie hatte noch versucht, ihre Mutter in Australien anzurufen, aber keinen erreicht. Gab es denn niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte?
    Es klopfte an der Tür. Jemand rief: »Mia, bist du zu Hause?« Nein, ich bin nicht da, murmelte sie. Sie zog sich die Bettdecke über den Kopf und hielt den Atem an. Sie konnte nicht öffnen, nicht, ehe sie selbst verstanden hätte, wie alles geschehen konnte. Sie mußte sich erinnern, jedes Detail war wichtig. Selbst wenn es Tage dauern sollte.
    *
    Triest ist der Nabel der Welt. Die Reise von Sydney dauerte 34 Stunden und führte via Singapur, London und München an den nördlichen Golf der Adria. Mia war zum letztenmal als Fünfzehnjährige zu Besuch in der Stadt gewesen, die ihre Großeltern mit ihrer Mutter, die damals ein
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