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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten
Autoren: Veit Heinichen
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Giftschlangen wimmelte. Irgendwann brachte die Wirtin das Gästebuch und bat um einen Eintrag. Jeder, der hier vorbeikam, schreibe etwas hinein. Sie lachten, als sie es durchblätterten und rückten enger aneinander. Es war ihr nicht unangenehm, die Wärme seines Körpers zu fühlen. Er war glücklich, daß ihr der Ort gefiel. In den nächsten Tagen wollte er ihr noch andere schöne Plätze zeigen, die kaum jemand in der Stadt kannte. Sie nahm seine Hand von ihrem Oberschenkel und legte sie zurück auf den Tisch. Ihr Lob auf Wein und Wurst im Gästebuch unterschrieb er nur mit einem Initial. Es sei besser, keine Spuren zu hinterlassen, sagte er. Sie lachte und malte ein Strichmännchen dazu.
    Es hätte alles so schön sein können. Ein Flirt, ein Gang durch die Nacht, ein Kuß. Aber es endete furchtbar. Ihr Rücken schmerzte von den spitzen Steinen, gegen die er sie gedrückt hatte. Sie mußte sich übergeben. Immer wieder. Ihr war hundeelend zumute.
    Sie waren die letzten Gäste gewesen, als sie endlich aufbrachen. Die Wirtin hatte geduldig gewartet und noch einen Liter Wein gebracht. Irgendwann aber konnte oder wollte sie ihr Gähnen nicht mehr unterdrücken. Die scharf geschnittene Sichel des Neumonds warf ein spärliches Licht ins Tal, der Weg war nur zu erahnen, doch das Geplätscher der Rosandra war ein guter Führer.
    Einmal stolperte sie und sagte kichernd, daß sie nicht wisse, ob es an der Dunkelheit liege oder am Wein. Er legte einen Arm um sie. Sie spürte, wie er mit der Hand ihre Brust berührte. Dann zeigte er auf eine Stelle am Ufer der Rosandra und schlug vor, ein Bad zu nehmen. Bevor sie antworten konnte, hatte er sich schon ausgezogen. Seine Haut schimmerte hell im Mondlicht, dann tauchte er ins Wasser. Sie zögerte einen Augenblick, bis auch sie sich entkleidete. Sie hatte den Abend genossen. Sie hatten viel gelacht und sich gut unterhalten. Er war ein wirklich netter Kerl, doch eine Affäre wollte sie auf gar keinen Fall. Er war nicht ihr Typ.
    Und dann sprang auch sie in den Fluß.
    Warum war sie davongelaufen wie eine Mörderin? Warum hatte sie keine Hilfe geholt, als er tot war? Jeder hätte ihr geglaubt. Ihre Wunden waren so deutlich, daß ein Blinder die Spuren der Gewalt hätte identifizieren können. Als sie ihn bat, sich zurückzuhalten, hatte er sie grob auf den Boden geworfen und niedergedrückt. Ihre Schreie verklangen ungehört in der Nacht, und die Spuren, die ihre Fingernägel in seine Haut rissen, schienen ihn noch mehr aufzureizen. Als er mit heftigen Stößen in sie drang, hörte sie sein Keuchen an ihrem Ohr.
    Doch plötzlich hatte er sich aufgerichtet und sich mit beiden Händen theatralisch an die Kehle gefaßt, gewürgt und gekeucht. Er war aufgesprungen und wie ein Irrer herumgetanzt. Und dann der Fall. Röchelnd sackte er zu Boden. Er krümmte und wand sich und bäumte sich ein letztes Mal auf, bevor er schließlich bewegungslos in sich zusammenfiel.
    Sie hatte sich auf ihn gesetzt und ihn geschüttelt, doch seine Augen waren starr und schienen aus dem Kopf zu quellen. Er atmete nicht mehr. Sie stand auf und blickte sich panisch um. Wo war sie hier? Sie sah keine Lichter, an denen sie sich hätte orientieren können. Sie wühlte in den Taschen seiner Hose nach dem Feuerzeug und steckte sich mit zitternden Händen eine Zigarette an. Dann ging sie in den Fluß und wusch sich lange. Er hatte keine Zeit gehabt, sich in sie zu ergießen, doch jetzt wünschte sie, daß er lebte und seine Gewalt zu Ende führte. Es wäre alles leichter. Sie schmeckte Salz auf der Zunge, das von ihren Tränen stammte. Dabei weinte sie doch gar nicht. Sie stieg aus dem Wasser und beugte sich über ihn, doch wieder starrten sie nur diese toten Augen an. Sie stieß ihn mit dem Fuß, trat ihn in die Rippen, doch er bewegte sich nicht. Hastig zog sie ihren Rock und das Hemdchen an, raffte seine Kleidungsstücke zusammen und schlüpfte in ihre Schuhe. Sie rannte blind drauflos, flußabwärts in die Dunkelheit hinein. Einmal stürzte sie und rappelte sich hastig wieder auf. Irgendwo warf sie seine Kleider in die Büsche. In Bagnoli erwischte sie gerade noch den letzten Bus, der sie in langer Fahrt in die Stadt brachte. Die letzten Meter ging sie zu Fuß. Zu Hause suchte sie hastig nach der Grappaflasche und stürzte ein Glas nach dem anderen hinunter, bis sie irgendwann fast besinnungslos ins Bett fiel.
    Als sie gegen sechs Uhr erwachte, schlief die Erinnerung noch und schlug erst unter der Dusche mit
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