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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten
Autoren: Veit Heinichen
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erbarmungslosem Schrecken zu. Wieder übergab sie sich. Immer wieder.
    Es hätte alles so schön sein können. Die Zeit in Triest sollte Befreiung sein und war zum Albtraum geworden. Sie war zu ihren Wurzeln zurückgekehrt, um sich selbst zu finden, und war dem Tod begegnet.

Marinadi Aurisina
    Mit Schnorchel und Flossen kam er schnell voran. Das Wasser in diesem Mai war dank der brütenden Hitze, die sich seit Wochen übers Land gelegt hatte, deutlich wärmer als im Vorjahr. Dennoch hatte er den schwarzen Neoprenanzug angelegt, dann wie üblich das Halteband der kleinen Harpune übergestreift und ein Messer an der Wade festgemacht, mit dem er Muscheln losbrach oder Seeigel aufschnitt, die er für sein Leben gern roh verzehrte. Im Osten über der Stadt hatte der anbrechende Tag bereits über die Finsternis gesiegt, als er die Treppe zum Meer hinunterstieg und kurz darauf am kleinen Anleger ins Wasser glitt. Seit er an der Küste lebte und regelmäßig schwimmen ging, während alle anderen noch schliefen, war er endlich wieder in Form. Selbst Laura hatte plötzlich nichts mehr an seinem Bauchumfang auszusetzen, lobte manchmal sogar seine muskulösen Schultern – und auch mit dem Sex lief es wieder besser.
    Srečko, der letzte Fischer von Santa Croce, hatte am Abend zuvor am Tresen des »Pettirosso« beiläufig zu ihm gesagt, daß in der letzten Zeit eigenartige Typen unten am kleinen Hafen beim Meeresbiologischen Forschungslabor aufgetaucht seien. Aber man wolle ja nicht gleich die Polizei rufen. Manchmal seien sie zu zweit, dann wieder zu viert, aber natürlich niemand von denen, die dort ein Boot liegen hatten und erst recht keine Badegäste, die ein Stück weiter oben den Nacktbadestrand Liburnia am Fuß der Steilküste aufsuchten. Dazu seien die Herren einfach nicht richtig gekleidet. Der Fischer, trotz seiner 74 Jahre ein Berg fester Muskeln mit Händen, kräftig wie Baggerschaufeln, fuhr jeden Morgen raus. Nicht weil er es finanziell nötig gehabt hätte, vielmehr aus Leidenschaft und weil er das idyllische Restaurant »Bellariva«, das seine Frau gleich neben dem kleinen Hafen betrieb, mit dem frischen Fang versorgte. Srečko hatte feste Zeiten, und das wußten diese Männer wohl, die immer gerade dann die Mole verließen, wenn er bei Tagesanbruch zu seinem Kutter ging. Und jedesmal habe dann eines dieser hochmotorisierten Schlauchboote abgelegt, die bis zu 40 Knoten machen. »Irgend etwas stimmt nicht«, sagte er. »Das sollte sich einmal jemand genauer ansehen.«
    Die kleinen Häfen an der Steilküste vor Triest waren nur zu Fuß über Hunderte von Treppenstufen zu erreichen, bis auf die Marina di Aurisina, zu der eine enge Straße mit starkem Gefälle hinabführte. Sie endete vor der Einfahrt zum Gelände des Laboratoriums, zu dem nur die Mitarbeiter und die Eigner der kaum zwanzig Boote, die an der Mole lagen, Zugang hatten. Alle anderen mußten eine steile Treppe zum Meer hinunter und dann auf einem steinigen Strand weiter zum Hafen gehen. Dafür war die Wahrscheinlichkeit, daß hier Kontrollen durchgeführt wurden, gering. Kein Streifenwagen fuhr je dort hinab, wo nur ein paar mit hohen Mauern umgebene Villen standen, deren Alarmanlagen direkt mit den Behörden verbunden waren. Und der Nacktbadestrand am Fuß der Küste war ohnehin nicht kontrollierbar. Kein Polizist würde auf die Idee kommen, die steilen Pfade hinunter- und danach wieder hinaufzuklettern. Manchmal fuhr ein Boot der Küstenwache oder der Polizia Marittima nahe am Ufer vorbei, aber die Beamten mit den guten Ferngläsern schienen vor allem am Anblick nackter Haut interessiert. Es gab Badegäste, die dort im Sommer Jahr für Jahr dieselben Plätze beanspruchten und sie eisern verteidigten, und andere, die sogar so etwas wie einen Zweitwohnsitz samt Kochgelegenheit und Bretterverschlag dort aufgestellt hatten.
    Im Hafen war keine Menschenseele zu sehen. Proteo Laurenti hielt sich hinter den Anlagen der Miesmuschelzuchten, die in riesigen geometrischen Mustern hundert Meter vor der Küste in der sanften Dünung schaukelten. Auf dem offenen Meer bewegten sich lediglich die Positionslichter einiger heimkehrender Fischkutter, sonst war es ruhig. Die Sonne hob sich langsam über den Karst, ihr Licht war noch stumpf, als würde sie selbst erst mit dem Tag erwachen. Laurenti wartete an einer Boje und beobachtete die Einfahrt zu dem kleinen Hafen. Er verschnaufte kurz, denn er wollte die Strecke ohne aufzutauchen hinter sich bringen. Keine einfache
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