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Der Tod wirft lange Schatten

Der Tod wirft lange Schatten

Titel: Der Tod wirft lange Schatten
Autoren: Veit Heinichen
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schon vor dem Mittagessen dem Wein zusprachen und Karten spielten.
    Irina hörte all dies nicht. Einige der Veteranen hatten der jungen Frau mit dem rosafarbenen Rucksack ein paar Cent zugesteckt, wie immer, wenn sie zweimal die Woche hier Kärtchen mit billigen Schlüsselanhängern oder einem Feuerzeug auf den Tischen verteilte und sie meist erfolglos wieder einsammelte, um dann stoisch im nächsten Lokal ihr Glück zu versuchen. Niemand achtete auf das zurückhaltende Handzeichen, mit dem sie sich bedankte. Irina war gehörlos und stumm. Hier draußen war die Ablehnung nicht so hart zu spüren wie in der Stadt, auch wenn die Ausbeute lächerlich war. Ihre Tour war so eisern festgelegt wie der Bezirk, den man ihr in Triest zugeteilt hatte. Sie teilten sich Stadt und Umland zu viert, und einmal in der Woche hatten sie ihren Verdienst abzuliefern. Bei einem von der Gruppe, der mehr zu sagen hatte, aber selbst kontrolliert wurde, vom nächsten Chef, der es ihn büßen ließ, wenn die Einnahmen zu gering waren. So wie Irina es zu spüren bekam, brachte sie einmal auch nur einen Euro zu wenig oder zu spät. Sie kannte die Konsequenzen genau, schließlich war sie bereits vor einem Jahr in dieses gnadenlose Geschäft geraten und hatte die Hölle durchgemacht. Durch wie viele Länder Westeuropas war sie geschickt worden? Die Gesichter ihrer Bosse hatten von Ort zu Ort gewechselt, doch die Methode war stets die gleiche geblieben. Man hatte sie geschlagen, als sie sich auflehnte, mit Zigarettenstummeln verbrannt und mit heißem Wasser verbrüht als Strafe für Verspätungen, sie vergewaltigt, wenn es der Laune des Bosses entsprach, ihr das Haar abgeschnitten und den Eltern nach Rußland geschickt, als sie versucht hatte abzuhauen. Die Drohung war unmißverständlich. Irgendwann hatte Irina sich mit ihrem Schicksal arrangiert und wurde dafür belohnt, indem sie länger in einer Stadt bleiben durfte und weniger Druck bekam. Dennoch stand sie unablässig unter Kontrolle. Man hatte ihr verboten, Freundschaften mit Einheimischen zu schließen, und sie mußte täglich damit rechnen, weitergeschickt zu werden. In manchen Städten war es härter gewesen als in Triest, vor allem wenn die Konkurrenz aus Rosenverkäufern, Schwarzen mit billigem Schmuck oder CDs und den Taubstummen, zu denen sie gehörte, so groß war, daß die Gäste in den Lokalen sich belästigt fühlten. Sie war illegal in Westeuropa und konnte sich nicht verständigen. Sie kannte niemanden, dem sie sich hätte anvertrauen können, und wer hätte ihr schon geglaubt. Sechzehn Stunden war Irina fast täglich unterwegs und trotzdem blieb ihr von dem Geld kaum etwas zum Leben übrig.
    Das Lokal der Partisanen war ihre letzte Station in Bagnoli, dem kleinen Dorf kurz vor der Grenze und am Beginn des Val Rosandra, wo ein buntlackierter Schlagbaum die Grenze nach Slowenien symbolisierte und eine kleine Trattoria Ziel der Ausflügler war. Irina wußte nichts von diesem Ort, sowenig wie ihre Chefs, die sie sonst auch noch dorthin geschickt hätten. Kein Unternehmer und kein Drogendealer wußte so gut wie diese erpresserische Organisation, was es hieß, einen Markt zu bearbeiten.
    Die Geräusche um uns herum sind wie zusätzliche Augen – wenn wir sie hören können. Noch nie in ihrem Leben hatte Irina eine Straße wie jeder andere überquert. Sie mußte sich mehrfach umschauen, bevor sie zur Haltestelle gegenüber ging. Die lange Busfahrt zurück ins Zentrum würde ihre einzige Pause sein, bevor sie dort die Tische vor den Lokalen auf der großen Piazza am Meer abklappern mußte, an denen immer ein paar Touristen oder Pensionäre saßen. Irina wartete im Schatten eines Hauses bei der Bushaltestelle. Immer noch stand der Motorradfahrer in der Hauseinfahrt, nur wenige Schritte von ihr entfernt. Sie schaute in die Richtung, aus der der Bus kommen würde und drehte dem Vermummten den Rücken zu. Der Parkplatz vor ihr füllte sich allmählich: Frauen, die mit den Einkäufen für das Mittagessen nach Hause kamen, mit Plastiktüten bepackt quer über den Dorfplatz liefen und schließlich in den engen Seitenstraßen verschwanden. Ein Kleinwagen mit breiten Reifen fuhr zweimal vorbei und hielt schließlich ein paar Meter hinter ihr. Ein Typ mit kahlgeschorenem Kopf stieg aus und ging in Richtung Motorrad.
    »Branka?« fragte er.
    Eine junge Frau öffnete kurz das Visier, nickte stumm und ließ den Sichtschutz wieder fallen.
    »Hast du die Dokumente?«
    Branka schlug mit der flachen
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