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Der Tod wartet

Der Tod wartet

Titel: Der Tod wartet
Autoren: Agatha Christie
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bestellen. Sie leisten mir doch Gesellschaft, Miss –?»
    «King. Sarah King.»
    «Und ich bin – Sie gestatten.» Er überreichte schwungvoll seine Visitenkarte. Als Sarah sie las, weiteten sich ihre Augen vor ehrfürchtiger Bewunderung.
    «Dr. Théodore Gérard? Oh! Ich freue mich ja so, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich habe selbstverständlich alle Ihre Bücher gelesen. Ihre Ansichten über Schizophrenie sind wahnsinnig interessant.»
    «Wieso ‹selbstverständlich›?» Gérard zog fragend die Augenbrauen hoch.
    Sarah erklärte es ihm leicht befangen. «Weil ich – nun, weil ich selbst Ärztin bin. Ich habe gerade mein Examen gemacht.»
    «Ah! Ich verstehe.»
    Dr. Gérard bestellte Kaffee, und sie nahmen in einer Ecke des Salons Platz. Das Interesse des Franzosen galt nicht so sehr Sarahs medizinischen Fähigkeiten, sondern vielmehr ihrem schwarzen Haar, das in dichten Wellen herabfiel, und dem wundervoll geschwungenen roten Mund. Die ehrfürchtige Scheu, mit der sie ihn betrachtete, amüsierte ihn.
    «Bleiben Sie länger hier?», fragte er, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
    «Nur ein paar Tage. Danach will ich nach Petra fahren.»
    «Ah! Daran habe ich auch schon gedacht, falls es nicht zu viel Zeit in Anspruch nimmt. Ich muss nämlich am vierzehnten in Paris sein.»
    «Man braucht dafür etwa eine Woche, glaube ich. Zwei Tage für die Hinreise, zwei Tage am Ort und zwei weitere Tage für die Rückreise.»
    «Ich werde gleich morgen Vormittag zum Reisebüro gehen und mich erkundigen, ob sich etwas arrangieren lässt.»
    Eine Gruppe von Gästen betrat den Salon und nahm Platz. Sarah beobachtete sie interessiert. Sie senkte die Stimme.
    «Die Leute, die gerade hereingekommen sind – haben Sie die nicht auch schon im Zug gesehen? Sie sind gleichzeitig mit uns aus Kairo abgereist.»
    Dr. Gérard klemmte sein Monokel ein und blickte zu der besagten Gruppe hinüber. «Amerikaner?»
    Sarah nickte.
    «Ja. Eine amerikanische Familie. Aber eine – ziemlich ungewöhnliche, würde ich sagen.»
    «Ungewöhnlich? In welcher Beziehung?»
    «Sehen Sie sie sich doch an. Insbesondere die alte Frau.»
    Dr. Gérard kam der Aufforderung nach. Sein scharfer geschulter Blick glitt rasch von Gesicht zu Gesicht.
    Als Erstes fiel ihm ein großer, ziemlich schlaksiger Mann auf, Alter etwa dreißig. Sein Gesicht war sympathisch, aber etwas zu weich, und er wirkte seltsam abwesend. Dann waren da zwei gut aussehende junge Leute. Der Bursche hatte ein geradezu griechisches Profil. «Auch bei ihm scheint etwas nicht zu stimmen», dachte Dr. Gérard. «Ja – ein klarer Fall von hochgradiger Nervosität.» Das Mädchen war offensichtlich seine Schwester, da eine große Ähnlichkeit vorlag, und auch sie befand sich in einem Zustand höchster Erregtheit. Dann war da noch ein weiteres Mädchen, jünger als die anderen, mit rotblonden Haaren, die sich wie ein Heiligenschein abhoben. Ihre Hände waren ständig in Bewegung, rissen und zerrten an dem Taschentuch, das sie auf dem Schoß hielt. Und eine Frau, jung, ruhig, dunkelhaarig, mit hellem Teint und dem sanften Gesicht einer Madonna von Luini. An ihr war nun überhaupt nichts Hektisches! Und im Zentrum der Gruppe – Großer Gott!, dachte Dr. Gérard mit dem ehrlichen Abscheu des typischen Franzosen. «Was für ein entsetzliches Weib!» Alt und fett und aufgedunsen saß sie regungslos im Kreis ihrer Familie – ein hässlicher alter Buddha, eine fette Spinne in ihrem Netz!
    An Sarah gewandt sagte er: « La maman ist nicht gerade eine Schönheit, wie?», und zuckte die Schultern.
    «Sie hat so etwas – etwas Unheimliches, finden Sie nicht auch?», meinte Sarah.
    Dr. Gérard musterte die Frau erneut. Diesmal mit dem Auge des Arztes, nicht des Ästheten.
    «Wassersucht. Kardiale Hydropsie», setzte er im Fachjargon hinzu.
    «Ja, sicher, das auch.» Sarah tat den medizinischen Aspekt als unwesentlich ab. «Aber das Verhalten der anderen ihr gegenüber ist irgendwie merkwürdig, finden Sie nicht?»
    «Wissen Sie, wer die Leute sind?»
    «Sie heißen Boynton. Mutter, verheirateter Sohn mit Frau, ein jüngerer Sohn und zwei jüngere Töchter.»
    Dr. Gérard murmelte: « La famille Boynton auf Weltreise.»
    «Eine merkwürdige Art, die Welt zu sehen. Sie reden nie mit anderen. Und alle scheinen nur das zu tun, was die alte Frau sagt!»
    «Sie ist der Typ der Matriarchin», sagte Gérard nachdenklich.
    «Sie ist ein ausgemachter Tyrann, wenn Sie mich fragen», sagte Sarah.
    Dr. Gérard
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