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Der Tod wartet

Der Tod wartet

Titel: Der Tod wartet
Autoren: Agatha Christie
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abrupt, als hätte man ihm die Sporen gegeben, mit der Zeitschrift in der ausgestreckten Hand zu seiner Familie zurück.
    Die groteske Buddha-Figur hielt ihre fette Hand nach der Zeitschrift auf, doch als sie sie entgegennahm, ruhten ihre Augen, wie Dr. Gérard bemerkte, auf dem Gesicht des jungen Mannes. Sie gab eine Art Grunzen von sich, das sich keinesfalls nach Dank anhörte. Ihr Kopf drehte sich kaum merklich zur Seite. Dr. Gérard sah, wie sie Sarah scharf musterte. Ihr Gesicht war absolut ausdruckslos, ohne jede Gefühlsregung. Es war unmöglich zu sagen, was im Kopf dieser Frau vorging.
    Sarah schaute auf ihre Uhr und stieß einen leisen Schrei aus.
    «Es ist ja viel später, als ich dachte!» Sie stand auf. «Vielen Dank für die Einladung zum Kaffee, Dr. Gérard. Ich muss noch Briefe schreiben.»
    Er erhob sich und nahm ihre Hand.
    «Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder», sagte er.
    «Ganz bestimmt! Vielleicht kommen Sie ja mit nach Petra?»
    «Ich werde es auf alle Fälle versuchen.»
    Sarah lächelte ihm zu und ging. Ihr Weg führte sie am Tisch der Boyntons vorbei.
    Dr. Gérard, der ihr nachsah, bemerkte, dass Mrs Boyntons Augen wieder zu ihrem Sohn wanderten und dass sich ihre Blicke trafen. Als Sarah vorbeiging, drehte Raymond leicht den Kopf – nicht zu ihr hin, sondern von ihr weg. Es war eine langsame, widerwillige Bewegung, die den Eindruck vermittelte, die alte Mrs Boynton hätte an einem unsichtbaren Draht gezogen.
    Sarah King bemerkte den ausweichenden Blick, und sie war noch jung und unbefangen genug, um sich darüber zu ärgern. Sie hatten sich im schwankenden Gang des Schlafwagens so nett unterhalten. Sie hatten ihre Eindrücke von Ägypten ausgetauscht, hatten über die komische Sprache der Eselstreiber und Straßenhändler gelacht. Sarah hatte geschildert, wie ein Kamelführer, der sie erwartungsvoll und unverschämt gefragt hatte: «Du englisch Lady oder amerikanisch?», zur Antwort bekommen hatte: «Nein, Chinesin.» Und welches Vergnügen es ihr bereitet hatte, als der Mann sie daraufhin völlig entgeistert anstarrte. Der junge Boynton hatte wie ein netter, eifriger Schuljunge auf sie gewirkt – tatsächlich hatte sein Eifer etwas Rührendes gehabt. Und nun war er, ohne jeden ersichtlichen Grund, auf einmal linkisch, flegelhaft – ja geradezu ungezogen.
    In Zukunft kann er mir gestohlen bleiben, sagte sich Sarah empört.
    Denn obwohl Sarah nicht über Gebühr eingebildet war, hatte sie doch eine ziemlich hohe Meinung von sich. Sie wusste genau, dass sie auf das andere Geschlecht ausgesprochen anziehend wirkte, und sie gehörte nicht zu denen, die sich eine Brüskierung stillschweigend gefallen lassen!
    Vielleicht war sie doch eine Spur zu freundlich zu dem jungen Mann gewesen, aber aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen hatte er ihr Leid getan.
    Aber nun stand eindeutig fest, dass er nichts weiter als ein ungezogener, hochnäsiger, flegelhafter junger Amerikaner war!
    Statt die erwähnten Briefe zu schreiben, nahm Sarah King an ihrem Frisiertisch Platz, kämmte sich das Haar aus der Stirn, blickte in zwei aufgebrachte haselnussbraune Augen, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickten, und nahm ihr derzeitiges Leben unter die Lupe.
    Sie hatte gerade eine schwierige seelische Krise durchgemacht. Einen Monat zuvor hatte sie ihre Verlobung mit einem vier Jahre älteren Arzt gelöst. Sie hatten sich sehr zueinander hingezogen gefühlt, waren sich aber vom Temperament her zu ähnlich gewesen. Meinungsverschiedenheiten und Streitereien waren an der Tagesordnung gewesen. Sarah besaß ein zu herrisches Naturell, um den selbstverständlichen Autoritätsanspruch eines anderen einfach hinzunehmen. Wie so viele temperamentvolle Frauen glaubte Sarah, dass sie Stärke bewunderte. Sie hatte sich immer eingeredet, dass sie beherrscht werden wollte. Als sie dann einen Mann kennen lernte, der sie beherrschen konnte, stellte sie fest, dass ihr das ganz und gar nicht behagte! Die Verlobung aufzulösen war sehr schmerzlich für sie gewesen, aber sie war scharfsichtig genug, um einzusehen, dass Gefühle allein keine ausreichende Basis waren, um darauf ihr Lebensglück aufzubauen. Um schneller darüber hinwegzukommen, hatte sie sich ganz bewusst eine interessante Auslandsreise gegönnt, bevor sie allen Ernstes ins Berufsleben eintrat.
    Sarahs Gedanken kehrten aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurück.
    Ich bin gespannt, dachte sie, ob mir Dr. Gérard erlaubt, mit ihm über seine Arbeit zu sprechen. Er
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