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Der Tod wartet

Der Tod wartet

Titel: Der Tod wartet
Autoren: Agatha Christie
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bemerkte achselzuckend, dass in Amerika die Frau das Heft in der Hand habe – wie ja allgemein bekannt sei.
    «Ja, sicher, aber es ist nicht nur das», beharrte Sarah. «Sie ist – sie hat alle so unter ihrer Fuchtel – hält alle so an der Kandare, dass – dass es geradezu pervers ist!»
    «Zu viel Macht zu haben bekommt Frauen nicht», stimmte Gérard, plötzlich ernst geworden, zu und schüttelte den Kopf.
    «Es ist schwer für eine Frau, ihre Macht nicht zu missbrauchen.»
    Gérard sah sie schnell von der Seite an. Sie beobachtete die Boyntons – oder vielmehr ein bestimmtes Mitglied der Familie. Der Franzose in Dr. Gérard musste verständnisvoll lächeln. Aha! Das war es also!
    Er erkundigte sich zögernd: «Sie haben mit ihnen gesprochen?»
    «Ja – zumindest mit einem von ihnen.»
    «Mit dem jungen Mann – dem jüngeren Sohn?»
    «Ja. Im Zug von El-Kantara hierher. Er stand im Gang. Da habe ich ihn angesprochen.»
    Sarahs Einstellung gegenüber dem Leben war offen und unbefangen. Sie interessierte sich für Menschen und war von Natur aus freundlich, wenn auch ungeduldig.
    «Warum haben Sie ihn angesprochen?», fragte Gérard.
    Sarah zuckte mit den Schultern.
    «Wieso nicht? Ich spreche oft Leute an, wenn ich auf Reisen bin. Menschen interessieren mich eben – was sie tun und denken und fühlen.»
    «Sie legen sie gewissermaßen unter das Mikroskop.»
    «So könnte man es nennen», räumte die junge Frau ein.
    «Und welchen Eindruck hatten Sie in diesem Fall?»
    «Tja», sagte sie zögernd, «es war schon etwas seltsam… Zunächst einmal wurde der junge Mann rot bis über beide Ohren.»
    «Ist das so verwunderlich?», fragte Gérard trocken.
    Sarah lachte.
    «Sie meinen, er könnte mich für ein leichtes Mädchen gehalten haben, das ihm schamlos Avancen machte? O nein, das glaube ich nicht. Männer erkennen dergleichen doch auf den ersten Blick, habe ich Recht?»
    Sie sah ihn geradeheraus fragend an. Dr. Gérard nickte bejahend.
    «Ich hatte das Gefühl», sagte Sarah langsam und mit leicht gerunzelter Stirn, «dass er – wie soll ich es ausdrücken – aufgeregt und entsetzt zugleich war. Unverhältnismäßig aufgeregt – und gleichzeitig geradezu lächerlich ängstlich. Das ist doch merkwürdig, finden Sie nicht? Ich hatte Amerikaner bisher immer für außergewöhnlich selbstsicher gehalten. Ein zwanzigjähriger Amerikaner kennt sich auf der Welt bei weitem besser aus und hat viel mehr savoir-faire als, sagen wir, ein Engländer dieses Alters. Und der bewusste junge Mann ist bestimmt über zwanzig.»
    «Dreiundzwanzig oder vierundzwanzig, würde ich sagen.»
    «So alt?»
    «Meiner Schätzung nach, ja.»
    «Vielleicht haben Sie Recht… Aber er kommt mir irgendwie furchtbar jung vor…»
    «Mental nicht dem Alter entsprechend entwickelt. Der kindliche Faktor dominiert noch.»
    «Dann habe ich also Recht? Dass er irgendwie nicht ganz normal ist, meine ich?»
    Dr. Gérard zuckte mit den Schultern und musste unwillkürlich über den ernsten Ton der Frage lächeln.
    «Verehrte junge Dame, wer von uns ist schon ganz normal? Aber ich gebe zu, dass es sich hier vermutlich um eine Neurose handelt.»
    «Die bestimmt irgendwie mit dieser grässlichen alten Frau zusammenhängt.»
    «Sie scheinen sie nicht sehr zu mögen», sagte Gérard und sah Sarah eigenartig an.
    «Stimmt genau. Sie hat so einen – ja, einen bösen Blick.»
    Gérard murmelte: «Den haben viele Mütter, wenn ihre Söhne sich zu faszinierenden jungen Damen hingezogen fühlen.»
    Sarah zuckte ungehalten mit den Schultern. Franzosen waren doch alle gleich, dachte sie, immer nur Sex im Kopf! Obwohl sie, als gewissenhafte Psychologin, natürlich zugeben musste, dass bei den meisten Phänomenen unterschwellig stets auch eine sexuelle Komponente im Spiel war. Sarahs Gedanken folgten vertrauten psychologischen Bahnen.
    Doch dann wurde sie jäh aus ihren Betrachtungen gerissen. Raymond Boynton hatte sich erhoben und ging auf den Tisch mit den Zeitschriften zu. Er wählte eine aus. Als er auf dem Rückweg an Sarahs Sessel vorbeikam, blickte sie auf und sprach ihn an.
    «Haben Sie heute schon fleißig Sehenswürdigkeiten besucht?»
    Sie sprach aufs Geratewohl, da es ihr im Grunde nur darum ging, wie ihre Worte aufgenommen wurden.
    Raymond zögerte, wurde rot, scheute wie ein nervöses Pferd und sah ängstlich zum Mittelpunkt seiner versammelten Familie hinüber. Er stammelte: «Oh – o ja – äh, sicher, natürlich. Ich…»
    Dann eilte er so
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