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Der Tod wartet

Der Tod wartet

Titel: Der Tod wartet
Autoren: Agatha Christie
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der Fall war. Er saß gelöst da, schlaff. Verwirrt ging Gérard seine Erinnerungen an Patienten durch, die er so in Krankensälen hatte sitzen sehen, und dachte:
    Er ist erschöpft – ja, erschöpft vom langen Leiden. Der Blick in seinen Augen – dieser Blick eines verletzten Hundes oder eines kranken Pferdes – stummes kreatürliches Erdulden… Merkwürdig, sehr merkwürdig… Körperlich scheint bei ihm alles in Ordnung zu sein… Dennoch besteht kein Zweifel, dass er in letzter Zeit viel gelitten hat – und zwar seelisch. Jetzt leidet er nicht mehr, er erträgt nur noch stumm, wartet – vermutlich darauf, dass das Schicksal erneut zuschlägt. Aber in welcher Form? Bilde ich mir das alles nur ein? Nein, dieser Mann wartet auf etwas, auf das nahende Ende. So liegen Krebspatienten im Bett und warten, dankbar dafür, dass ein Medikament ihre Schmerzen ein wenig lindert…
    Lennox Boynton stand auf und hob das Wollknäuel auf, das der alten Dame heruntergefallen war.
    «Bitte, Mutter.»
    «Danke.»
    Was strickte sie da eigentlich, diese monströse phlegmatische alte Frau? Irgendetwas Dickes und Grobes. Gérard dachte: «Fäustlinge für Armenhäusler!» Er musste über seine eigene Phantasie lächeln.
    Er wandte seine Aufmerksamkeit dem jüngsten Mitglied der Gruppe zu, dem Mädchen mit den rotblonden Haaren. Sie war etwa neunzehn. Ihre Haut besaß die wundervolle Reinheit, die so oft mit roten Haaren einhergeht. Ihr Gesicht war sehr schön, wenn auch viel zu schmal. Sie saß da und lächelte vor sich hin – lächelte ins Leere. Ein eigenartiges Lächeln. Es war soweit weg vom Hotel Solomon, von Jerusalem… Es erinnerte Dr. Gérard an etwas… Dann fiel es ihm schlagartig ein. Es war das seltsame überirdische Lächeln, das auf den Lippen der Karyatiden auf der Akropolis in Athen liegt… Der Zauber dieses Lächelns, die absolute Regungslosigkeit des jungen Mädchens gaben ihm einen kleinen Stich.
    Doch dann fiel sein Blick auf ihre Hände, und es traf ihn wie ein Schock. Für die anderen Familienmitglieder waren sie durch den Tisch verdeckt, aber Dr. Gérard konnte sie von seinem Platz aus deutlich sehen. Die Hände lagen auf dem Schoß des jungen Mädchens und zupften – zupften und rissen ein zartes Taschentuch in winzige Fetzen.
    Gérard war zutiefst bestürzt. Das abwesende, gedankenverlorene Lächeln, der absolut reglose Körper – und die geschäftigen, zerstörerischen Hände…

Viertes Kapitel
     
    P lötzlich war ein gedehntes asthmatisches Keuchen zu hören, und die monströse strickende Frau sagte:
    «Ginevra, du bist müde. Du solltest zu Bett gehen.»
    Das Mädchen zuckte zusammen, die Finger hielten in ihrem mechanischen Zupfen inne. «Ich bin noch nicht müde, Mutter.»
    Gérard registrierte anerkennend, wie melodisch die Stimme war. Sie besaß jenen lieblichen, singenden Klang, der selbst den alltäglichsten Bemerkungen einen Zauber verleiht.
    «Doch, das bist du. Ich merke es dir immer an. Ich glaube nicht, dass du morgen irgendwelche Sehenswürdigkeiten besichtigen kannst.»
    «Aber das kann ich ganz bestimmt! Mir fehlt nichts.»
    Mit dumpfer, rauer Stimme – einer beinahe krächzenden Stimme – sagte ihre Mutter: «O doch. Du wirst wieder krank werden.»
    «Nein, ganz bestimmt nicht!»
    Das Mädchen begann heftig zu zittern.
    Eine sanfte, leise Stimme sagte: «Ich gehe mit dir nach oben, Jinny.»
    Die ruhige junge Frau mit den großen, nachdenklichen grauen Augen und der adretten dunklen Haarrolle erhob sich.
    Die alte Mrs Boynton sagte: «Nein. Sie geht allein nach oben.»
    Das Mädchen rief verzweifelt: «Aber ich möchte, dass Nadine mitkommt!»
    «Dann begleite ich dich natürlich.» Die junge Frau trat einen Schritt vor.
    Die alte Frau sagte: «Das Kind zieht es vor, allein hinaufzugehen – nicht wahr, Jinny?»
    Es trat Stille ein. Dann sagte Ginevra Boynton mit einer Stimme, die plötzlich ausdruckslos und hohl war:
    «Ja, ich möchte lieber allein gehen. Vielen Dank, Nadine.»
    Sie entfernte sich, eine große, eckige Gestalt, die sich erstaunlich anmutig bewegte.
    Dr. Gérard ließ die Zeitung sinken und gestattete sich einen langen Blick auf die alte Mrs Boynton. Sie sah ihrer Tochter nach, und auf ihrem aufgeschwemmten Gesicht zeichnete sich ein sonderbares Lächeln ab, der Hauch einer Karikatur des reizenden überirdischen Lächelns, das noch vor wenigen Augenblicken das Antlitz des Mädchens verklärt hatte.
    Dann wanderten die Augen der alten Frau zu Nadine, die wieder
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