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Der Tod Verhandelt Nicht

Der Tod Verhandelt Nicht

Titel: Der Tod Verhandelt Nicht
Autoren: Bruno Morchio
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Metallstuhl, weiter nichts. Nicht einmal ein Fenster. Der weiße Uterus, der den Embryo des künftig gesellschaftlich kompatiblen Staatsbürgers austragen sollte. Stattdessen warf er mich ein für alle Mal aus der Bahn.
    Das einzig Positive an jenen Jahren war, dass ich damals alles über die sardische Ogliastra lernte, bis ich sie aus dem Effeff kannte, als sei ich selbst dort geboren worden und aufgewachsen. Sardinien war nämlich die Heimat des Aufsehers, der mir das Essen brachte. Dreimal pro Tag. Ein junger Sarde, etwas älter als ich. Er hatte unglaubliches Heimweh nach dem Duft von Zistrosen und Myrte, also ließ ich ihn erzählen und verschlang seine Worte mit wesentlich größerem Appetit als den Fraß, den sie mir vorsetzten, um mich am Leben zu erhalten. Der junge Mann hieß Virgilio Loi und kam aus Tertenia, einem Dorf an der sardischen Weststraße, zehn Kilometer vom Meer entfernt  – einem Meer mit den Farben und dem Leuchten der Augen einer verliebten Frau.
    Virgilio Loi hatte mich gerettet, und ich würde ihm dafür immer dankbar sein. Ihm hatte ich es zu verdanken, dass ich nicht irgendwann einmal mit dem Kopf gegen die weiße Wand rannte und den Psychologen am Hals packte, den das Justizministerium geschickt hatte, um zu beurteilen, ob ich nach elf Monaten Isolationshaft »integriert« werden konnte. Der Psychologe hatte die Güte, mir zu bescheinigen, dass ich nicht mehr zu retten gewesen wäre, wenn sie mich noch ein paar Monate länger in Einzelhaft gelassen hätten.
    »Integriert zu werden« bedeutete, in einer Zelle mit zwei gewöhnlichen Kriminellen zu landen, mit separatem Klo, drei Pritschen, einem kleinen Tisch, zwei Metallstühlen und einem kleinen, vergitterten Fenster. Aber immerhin hatte ich von diesem Moment an die Gelegenheit, mit anderen menschlichen Wesen zu sprechen und von ihnen als derjenige gesehen zu werden, der ich war: weder Terrorist noch Verbrecher, höchstens ein Idealist, aber das sah die Gefängnisleitung zum Glück nicht als Vergehen an.
    Sie taten alles, um meine Strafe zu verkürzen. Erlaubten, dass man mir von zu Hause Bücher schickte, Berge von Büchern. Im Gefängnis absolvierte ich quasi ein Studium. Nicht, um Karriere zu machen. Und auch nicht, um mir eine Zukunft aufzubauen. Das Gefängnis ist kein Platz, um an die Zukunft zu denken, höchstens daran, wie viele Tage man noch absitzen muss. Ich hatte für mich studiert, um durchzuhalten. Um lebendig und innerlich unversehrt zu bleiben.
    So kam es, dass ich mir damals die Verpflichtung auferlegte, nach meiner Entlassung jedes Jahr ins Land meines Retters zu pilgern, und tatsächlich fuhr ich seither im Sommer nach Tertenia und an die Strände von Sarrala, um zu baden und die Sonne und das Licht einer Landschaft zu genießen, die nach Zistrosen und Myrte roch. Und um Virgilio Loi zu besuchen, der sich, seit er nun in Rente war, dem Anbau von Cannonau-Trauben und der Wildschweinjagd widmete. Wenige Meter vom Strand entfernt hatte er ein Ferienhaus gebaut, dessen eine Hälfte er an Touristen vermietete, vor allem an Sarden, die im Juli und August aus Cagliari und den Ortenin der Mitte der Insel kamen, um sich auf dem feinen Sand in der Sonne zu aalen. Mir und den Freunden, die mich in den Urlaub begleiteten, überließ er es zu einem Sonderpreis. Zu den unerschütterlichsten Stammgästen hatte seit jeher auch Gina Aliprandi gehört.
    »Aber die Familie Sanna stammt nicht aus Tertenia«, sagte ich in dem verzweifelten Versuch, mein Feriendorf aus dem Dunstkreis von Raubüberfällen und Ähnlichem herauszuhalten. »Jedenfalls habe ich dort noch nie etwas von ihnen gehört.«
    »Sie kommen aber auch aus der Ogliastra. Aus Lanusei«, erwiderte Gina und verschwand in der Buchhandlung.
    Wenig später kam sie mit genervtem Gesichtsausdruck wieder heraus  – ohne das Buch, das sie ihrer Mutter schenken wollte, die als Partisanen-Kurierin seinerzeit unter dem Decknamen »Pasionaria« aktiv gewesen war. Wir machten uns auf den Weg zu einem anderen Buchhändler, wobei es, ortskundig, wie wir waren, keiner Absprache bedurfte, um uns auf den Weg zu einigen. Aus dem Halbschatten des
caruggio
traten wir auf die Via San Lorenzo, auf der es von Menschen nur so wimmelte.
    Das grelle Sonnenlicht blendete uns und ließ die gebräunte Haut meiner Begleiterin regelrecht aufleuchten. Wir gingen die Via Scurreria hinunter bis zum Campetto und dann weiter zur Via San Luca. Die zweite Buchhandlung war der inoffizielle Treffpunkt einer
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