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Der Tod Verhandelt Nicht

Der Tod Verhandelt Nicht

Titel: Der Tod Verhandelt Nicht
Autoren: Bruno Morchio
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endlich mal ein bisschen dein Tempo drosseln?«
    »Wenn ich tot bin«, antwortete sie trocken. »Aber vorher muss ich noch ein Buch für meine Mutter kaufen. Sie wird heute zweiundachtzig.«
    Ich stürzte meinen Drink hinunter und bezahlte die Rechnung.
    Auf der Suche nach der Buchhandlung einer sardischen Freundin zwängten wir uns durch die düstere Via Canneto il Lungo. Dieser
caruggio
, eine der typischen engen Gassen Genuas, wimmelte von Menschen, Araber und Südamerikaner mischten sich völlig selbstverständlich mit Genuesern. Je näher wir dem Meer kamen, desto stärker spürten wir, wie die Wärme des Tages den Geruch von Fäulnis und Urin aus dem Asphalt schwitzte. Keilförmig schob sich das Blau des Himmels zwischen die Gebäude, in bizarren Formen, die sich in den Schnörkeln der Dachrinnen noch verengten, während das Licht auf die Farben der in der Gasse ausgestellten Waren rieselte: das lebhafte Rot der Erdbeeren und der Kirschen, das Gelb der Zucchiniblüten und das Grün der Salatköpfe.
    »Sardinien ist groß«, nahm ich den Faden wieder auf. »Valentino kann sonst wo stecken.«
    »Nicht ganz: Gabriele Sanna hat geredet. Die Sorge um seinen Sohn hat ihn gezwungen, aus der Deckung zu kommen.«
    »Hat er dir gesagt, wo du den Jungen suchen sollst?«
    »Er wähnt ihn an einem Ort, den du gut kennst. Den wir beide gut kennen.«
    Ich warf ihr einen Blick zu. Ich sah ihr förmlich an, was für einen Spaß es ihr machte, mich auf die Folter zu spannen.
    »Gina, kann es sein, dass du eine Schwäche für Heimlichtuereien hast?«
    »Ich mag Sardinien, Bacci. Und du auch, das weiß ich … Gabriele Sanna hat mir gesagt, dass du Valentino in Tertenia suchen sollst.«
    »Ach, du lieber Gott!«
    Tertenia. Das Dorf des guten alten Virgilio Loi. Das Ziel meiner Pilgerfahrten, die ich seit über zwanzig Jahren dorthin unternahm. Eine uralte Geschichte von der Sorte, die tief in einem drin noch immer brennen.
    Alles hatte vor dreißig Jahren angefangen, als bei einer Demonstration ein zweiundzwanzigjähriger Polizist ums Leben kam. An jenem Tage fielen mehrere Schüsse, aber es wurde nie geklärt, aus welcher Pistole der Schuss stammte, der den jungen Gesetzeshüter getötet hatte. Aber eins wusste ich mit Sicherheit: Ich war es nicht gewesen. Allein deshalb, weil ich damals gar keine Pistole besaß. Noch heute wird mir schlecht, wenn ich in eine derartige Situation gerate. Auf einen Menschen zu schießen ist für mich schlimmer als eine Cholerainfektion. Überhaupt war in jenem Jahr alles schiefgelaufen. Man musste schon blind sein, um nicht zu sehen, dass ein paar Waffen plötzlich Ernst ins Spiel brachten, denn sie verwandelten den politischen Kampf in einen Krieg und uns selbst in Terroristen. Einige predigten die Theorie vom
compagno
, der sichauch mal irren kann, und nach der Schützen auf jeden Fall gedeckt gehörten, da sie »auf dieser Seite der Barrikade« standen. Eine Barrikade, die sie im Kopf errichtet hatten, in deren Schutz sie regelrecht delirierten und sich zu Fanatismus und einer nicht vorhersehbaren Grausamkeit hinreißen ließen.
    So kam es, dass ich an jenem Tag, als ich eine Pistole auf dem Asphalt liegen sah, auf die bescheuerte Idee kam, sie aufzuheben, damit sie nicht jemandem in die Hände fallen konnte, der sie womöglich benutzt hätte. Ich wollte sie in den nächsten Gully werfen, wo sie keinen Schaden anrichten konnte.
    Sie haben mich festgenommen, bevor ich mich der Waffe entledigen konnte. Kurz vorher war der junge Polizist getroffen worden, und so hängten sie mir einen Prozess an. Zu meinem Glück war mit der verfluchten Pistole kein Schuss abgegeben worden, außerdem hatte sie ein anderes Kaliber als die .38er, die das Leben des Polizisten ausgelöscht hatte. Aber nach diesem Tag hatte ich abgeschlossen. Ich hatte aufgehört, meine Spielchen auf dem Rasen der Revolution zu treiben.
    Ich wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, die schließlich durch Strafmilderung auf fünf Jahre verkürzt wurden. Fünf Jahre saß ich, fünf Jahre im Hochsicherheitstrakt von Novara, die zu den besten meines Lebens hätten werden können, von einundzwanzig bis sechsundzwanzig. Sie haben in mir einen unendlichen Groll hinterlassen. Keiner kann sie mir je zurückgeben.
    Die ersten elf Monate saß ich in Einzelhaft, in einer Zelle von zweieinhalb Metern Länge und Breite. Mit weißen Wänden, weißer Decke, einer weißen Neonleuchte,weißem Klo und Waschbecken. Eine Pritsche, ein kleiner Tisch, ein
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