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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester
Autoren: Diane Chamberlain
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dieser Teil meiner Erinnerung verschüttet. Danach häuteten sie den Aal. Barfuß standen sie auf der schmalen Plattform am Fuße unseres Docks, Julie in einem roten Badeanzug und meine Mutter in einem Hauskleid mit einer Schürze darüber. Mom hielt den Kopf des Aals mit einem Putzlumpen umfasst, während Julie ihm die Haut abzog, wie man einen Strumpf von einem Bein zieht. Ich sah von meinem Platz hinter dem Lattenzaun aus zu. Ich hatte Angst, in den Kanal zu fallen, und achtete daher darauf, dass sich immer der Zaun zwischen mir und dem Wasser befand.
    Ich erinnere mich schwach, dass Grandpop und Grandma an der anderen Seite des Docks standen und ebenfalls zusahen. Es wurde viel gelacht und durcheinandergeredet, was Ethan Chapman wohl neugierig machte, denn er kam von nebenan herüber.
    “Stark”
, sagte er, als er sich in den Sand neben der Plattform kniete, auf der Julie und meine Mutter ihr unappetitliches Werk vollendeten. “Das ist der größte Aal, den ich je gesehen habe.” Ethan war sehr dünn, den dicksten Teil seiner Beine bildeten tatsächlich seine Knie. Seine Haut war über und über bedeckt mit Sommersprossen, und sein Haar wirkte mal braun, mal rot, je nachdem wie das Licht darauf fiel. Er trug eine Brille mit dicken Gläsern.
    “Warum kommst du heute Abend nicht vorbei und isst ein Stück mit?”, lud meine Mutter ihn ein. Dann warf sie lachend den Kopf zurück, als Ethan eine Grimasse schnitt. Sie wusste, dass außer meiner Großmutter und ihr niemand den gekochten Aal anrühren würde.
    “Ich will das Ding nicht essen”, entgegnete Ethan. “Aber kann ich die Haut haben?”
    Julie hatte sie gerade ins Wasser werfen wollen. Sie sah zu ihm hoch, wobei das Weiße in ihren Augen in starkem Kontrast zu ihrer dunklen Sommerbräune stand.
    “Wofür?”, fragte sie.
    “Sie ist schön”, erwiderte er und zeigte auf die Haut. “Sieh nur, wie sie innen schimmert. In allen Farben.”
    Wir starrten auf die abgezogene Aalhaut. Ich verstand, was er meinte. Die Haut hatte einen perlmuttartigen Schimmer.
    “Sie gehört dir.” Julie warf ihm die Haut zu.
    Ethan streckte einen seiner Streichholzarme aus und fing das glitschige Ding auf. “Und kann ich die Eingeweide haben, wenn ihr ihn ausnehmt?”, fragte er.
    Ich sah, wie Julie angewidert die Nase kraus zog. “Du bist ekelhaft”, sagte sie.
    “Julie”, wies meine Mutter sie zurecht. Dann blickte sie zu Ethan hinauf. “Natürlich kannst du sie haben, Ethan”, lenkte sie ein. “Was willst du denn damit?”
    “Sie untersuchen”, antwortete Ethan, und ich verstand, warum Julie in diesem Sommer nicht mehr mit ihm befreundet war.
    Als meine Mutter den gehäuteten, ausgenommenen und geköpften Aal in die heiße Pfanne warf, zuckte er noch immer. Das bescherte mir mehrere Nächte hintereinander schreckliche Albträume. Ich war damals ein besonders ängstliches Kind. Erst nachdem Isabel im August starb, verschwanden meine Ängste allmählich. Es schien unlogisch. Eigentlich hätte ich noch ängstlicher werden müssen, weil meine Welt erschüttert worden war. Doch es war, als ob das Allerschlimmste geschehen war und ich dennoch überlebt hatte, sodass ich von nun an nichts mehr fürchten musste.
    Endlich kam Mom zu meinem Ecktisch und setzte sich mir gegenüber.
    “Puhh!” Sie lächelte. “Ganz schön viel los heute.”
    “All die Kinder von der Sommerschule”, erwiderte ich.
    Mom war nicht wirklich bei mir. Unruhig schossen ihre Augen durch das kleine Restaurant, immer auf der Suche nach Kunden, die sie kannte, oder Tischen, die abgeräumt werden mussten. Sie arbeitete dort seit fünf Jahren, und es war ihr zweites Zuhause.
    “Dieses Mädchen”, bemerkte sie mit einem Nicken in Richtung der jungen Frau, der sie mich vorgestellt hatte. “Sie ist wieder schwanger. Kannst du dir das vorstellen? Sie wird drei kleine Kinder unter vier Jahren haben.” Sie schnalzte mit der Zunge. “Die Leute treffen Entscheidungen …”, wunderte sie sich.
    “Nun, es ist ihre Entscheidung”, erwiderte ich.
    “Ich bin sicher, dass ihr Mann ebenfalls dazu beigetragen hat”, sagte meine Mutter. Sie holte ein Taschentuch heraus und wischte über einen Fleck auf dem Tisch. “Ich wünschte, du würdest Sonntag mit mir zur Kirche gehen”, wechselte sie das Thema. “Es ist ein besonderer Anlass.”
    “Was ist denn Besonderes?” Ich versuchte, mich an die heiligen Sonntage zu erinnern, doch da war nur Leere.
    “Pater Terrell hat Geburtstag.”
    “Ah”, sagte
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