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Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester
Autoren: Diane Chamberlain
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und weißen Beinen. Ich sah ihn, wie er einen riesigen Kugelfisch aus dem Kanal hinter unserem Haus an Land zog und dann den weißen Bauch des Fisches rieb, damit er sich aufblies. Ich sah ihn, wie er mit aus Laken genähten Flügeln von der Spundwand sprang, als er zu fliegen versuchte. Wir waren einmal Freunde gewesen, doch 1962 nicht mehr. Bei unserer letzten Begegnung hatte ich ihn verprügelt.
    “Ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich hier einfach so auftauche”, sagte sie noch einmal. “Dad erzählte mir mal, dass Sie in Westfield leben, und so fragte ich ein wenig herum. Im Bagel-Shop. Bei dem Verkäufer in der Videothek. Ihre Nachbarn sind nicht gerade gut darin, Ihre Privatsphäre zu schützen. Und hier geht es um eine Angelegenheit, über die ich nicht in einem Brief schreiben oder am Telefon sprechen wollte.”
    “Was für eine Angelegenheit?”, fragte ich. Ihr ernster Ton überzeugte mich, dass dies mehr war als der Besuch eines Fans.
    Sie blickte zu den geflochtenen Schaukelstühlen auf meiner breiten Veranda.
    “Könnten wir uns setzen?”, bat sie.
    “Natürlich”, sagte ich, öffnete die Fliegengittertür und führte sie zu den Stühlen. “Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?”
    “Nein, vielen Dank”, entgegnete sie, während sie sich in einem der Stühle niederließ. “Es muss hübsch sein, so eine Veranda zu haben.”
    Ich nickte. “Wenn die Moskitozeit gekommen ist, nutzen wir sie kaum, doch im Moment ist es wirklich schön.” Ich musterte sie und suchte nach einer Ähnlichkeit mit Ethan in ihrem Gesicht. Sie hatte hohe Wangenknochen und sah mit ihrer tiefen Bräune umwerfend aus, wie ungesund diese auch sein mochte. Vielleicht war die Farbe nicht echt. Sie wirkte wie eine Frau, die sich sehr gut pflegte. Es fiel mir schwer, mir Ethan als ihren Vater vorzustellen. Er war nicht hässlich gewesen, aber doch ein linkischer Eigenbrötler.
    “Also”, begann ich. “Worum handelt es sich, dass Sie darüber nicht am Telefon sprechen wollen?”
    Jetzt, da wir im Schatten saßen, nahm sie ihre Sonnenbrille ab und zeigte ihre blauen Augen. “Können Sie sich an meinen Onkel Ned erinnern?”, fragte sie.
    Ethans Bruder war mir sogar noch besser im Gedächtnis geblieben als Ethan selbst. Ich hatte eine Schwäche für ihn gehabt, auch wenn er sechs Jahre älter war als ich und damit unerreichbar. Doch am Ende jenes Sommers hatte ich ihn verabscheut.
    Ich nickte. “Sicher”, antwortete ich.
    “Nun, er ist vor ein paar Wochen gestorben.”
    “Tut mir sehr leid, das zu hören”, erwiderte ich automatisch. “Er muss –” Ich rechnete im Kopf kurz nach. “Er muss ungefähr neunundfünfzig gewesen sein?”
    “Er starb in der Nacht vor seinem neunundfünfzigsten Geburtstag”, sagte Abby.
    “War er krank?”
    “Er hatte eine Leberzirrhose”, sagte Abby sachlich. “Er trank zu viel. Mein Vater sagte … dass er mit dem Trinken angefangen hätte, nachdem in dem einen Sommer Ihre … Sie wissen schon.” Zum ersten Mal wirkte sie etwas unsicher. “Nachdem Ihre Schwester gestorben war”, sagte sie. “Er wurde richtiggehend depressiv. Ich kenne ihn nur als einen sehr traurigen Mann.”
    “Das tut mir leid”, wiederholte ich. Ich konnte mir den gut aussehenden und athletisch gebauten Ned Chapman nicht als niedergeschlagenen neunundfünfzigjährigen Mann vorstellen. Andererseits hatte uns jener Sommer alle verändert.
    “Dad weiß nicht, dass ich hier bin”, gestand Abby. “Und er würde es nicht gutheißen, doch ich musste einfach kommen.”
    Ich beugte mich vor und wünschte mir, dass sie zum Punkt käme. “Warum sind Sie hier, Abby?”, wollte ich wissen.
    Sie nickte, als ob sie sich bereit machte, etwas lange Einstudiertes vorzutragen. “Dad und ich räumten Onkel Neds Stadthaus aus”, begann sie. “Ich durchstöberte seine Küche und fand in einer der Schubladen einen Umschlag, der an das Point Pleasant Police Department adressiert war. Dad hat ihn geöffnet und …” Sie griff in ihre Umhängetasche und reichte mir ein Blatt Papier. “Das hier ist eine Kopie.”
    Ich blickte auf den kurzen, maschinengeschriebenen Brief, der auf zwei Monate früher datiert war.
    An alle, die es angeht:
    Ich habe Informationen zu einem Mord, der 1962 in Ihrem Zuständigkeitsbereich begangen wurde. Für das Verbrechen hat die falsche Person gebüßt. Ich bin todkrank und möchte die Dinge richtigstellen. Sie können mich unter der oben genannten Telefonnummer erreichen.
    Mit freundlichen
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