Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tod meiner Schwester

Der Tod meiner Schwester

Titel: Der Tod meiner Schwester
Autoren: Diane Chamberlain
Vom Netzwerk:
einem Monat. Ich dachte immer als eine große Person an sie, doch entweder schrumpfte sie allmählich, oder ich hatte mir ihre Größe nur eingebildet. Ihr Haar war weiß und sah toll aus. Sie ließ es jede Woche frisieren, und es wirkte immer weich und natürlich. Das schneeweiße Haar bildete einen verblüffenden Gegensatz zu ihrem karamellfarbenen Teint, den sie ihrer italienischen Mutter verdankte. Die Leute glaubten immer, dass sie gerade von einer Kreuzfahrt in die Karibik zurückgekehrt sein müsse. Isabel war ihr am ähnlichsten gewesen, doch ich hatte ihre perfekte Nase und die vollen Lippen geerbt, und Julie hatte ihre großen dunklen Augen. Wir hatten beide ziemlich viel Glück, überhaupt etwas von der Schönheit unserer Mutter geerbt zu haben.
    Ich trat zu ihr.
    “Hallo, Mom”, begrüßte ich sie.
    Wie erwartet, schien sie erfreut, mich zu sehen. Sie schlang einen Arm um meine Taille.
    “Dies ist die Tochter, von der ich erzählte”, sagte sie zu der jungen Frau. “Die mit dem Boheme-Leben.”
    Ich lachte, und die Frau lächelte verwirrt. Ich war sicher, dass sie mit ihren zwanzig und ein paar Jahren keine Ahnung hatte, was Boheme bedeutete, doch sie lächelte trotzdem.
    “Ihre Mutter sagte, dass Sie gerade aus Nepal zurückgekommen sind”, sagte die Frau und bot ihrem Sohn dabei eine Pommes an.
    “Stimmt”, bestätigte ich. “Es war eine fantastische Reise. Waren Sie jemals dort?”
    “Oh nein.” Die Frau nickte in Richtung ihrer Kinder. “Ich war seit drei Jahren nirgendwo mehr, aus naheliegenden Gründen.”
    Auch ich war seit drei Jahren nicht mehr in Nepal gewesen, doch meine Mutter genoss es, mit dieser Reise Leute zu beeindrucken. Für sie klang es einfach exotisch. Ich hätte sie gern dorthin mitgenommen, doch obwohl sie für ihre einundachtzig Jahre erstaunlich gesund war, hatte ich Angst, dass die Höhe und das viele Wandern sie umbringen würden.
    “Hast du eine Minute Zeit?”, fragte ich sie.
    “Natürlich!” Sie entschuldigte sich bei der jungen Frau, sah dann aber einen Tisch mit nicht abgeräumten Tabletts. “Such dir schon mal einen Platz, ich komme gleich”, sagte sie.
    Ich kaufte einen Eistee und setzte mich an einen Ecktisch. Mom fand noch mehr, was zu tun war, und sprach mit einer ihrer viel, viel jüngeren Kolleginnen, einem hispanischen Mädchen mit einem zarten Tattoo auf dem Handgelenk, das in mir immer den Wunsch weckte, mir auch eines machen zu lassen. Ich hatte mir tatsächlich mal einen Schmetterling auf die Hüfte tätowieren lassen – ein dummer Fehler, den ich in meinen Zwanzigern beging, als ich noch nicht begriff, welchen Einfluss die Schwerkraft später auf diesen Teil meines Körpers haben sollte. Aus diesem Grund hatte ich versucht, Shannon das Tattoo eines Cellos auf ihrem Rücken auszureden, doch sie hatte darauf bestanden, und ich musste zugeben, dass es sehr hübsch aussah, wenn sie ihre hüfttiefen Hosen trug. Das Tattoo war so kunstvoll gestochen, dass selbst Julie sich nur zehn Sekunden lang aufregte, wenn sie es zu Gesicht bekam.
    Während ich auf Mom wartete, dachte ich an Julies Anruf. Ich konnte nicht glauben, dass sie nach all dieser Zeit wieder mit Isabels Tod konfrontiert wurde. Ich erinnerte mich an so wenig aus jenem Sommer, dass die Geschehnisse mich niemals so schmerzten wie meine Schwester. Ich war erst acht Jahre alt gewesen, und die Erinnerung an unser Leben in Bay Head Shores umfasste nur winzige Ausschnitte, ähnlich den kurzen Videoaufnahmen, die man mit einer Digitalkamera machen konnte. Während ich an meinem Tee nippte, kam mir das Bild in den Sinn, wie Julie einen riesigen Aal gefangen hatte. Es war nicht ungewöhnlich, im Kanal hinter unserem Bungalow Aale zu fangen, doch dieser war ganz besonders groß gewesen.
    “Und sie hat ihn ganz allein an Land gezogen”, prahlte mein Großvater. Julie war seine Partnerin beim Angeln. Die beiden verbrachten Stunde um Stunde in unserem sandigen Garten, wo sie auf den blauen Holzstühlen saßen, ihre Angelstöcke festhielten und sich unterhielten, auch wenn ich keine Ahnung hatte, worüber eigentlich. Ich saß normalerweise zusammengekuschelt mit einem Buch irgendwo in der Sicherheit des Hauses.
    Die meisten Menschen warfen die Aale vermutlich wieder zurück ins Wasser, doch meine Mutter und meine Großmutter hielten sie für eine Delikatesse. Mom kam aus dem Haus, und gemeinsam töteten sie und Julie den Aal. Ich erinnere mich nicht daran, wie sie es taten – gnädigerweise ist
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher