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Der Tierarzt kommt

Der Tierarzt kommt

Titel: Der Tierarzt kommt
Autoren: James Herriot
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angesichts der Würde und Zuversicht, die er ausstrahlte, war ich hilflos.
    »Ach... nein... nein, eigentlich nicht, Mr. Barge«, erwiderte ich. Ich hätte es nicht über das Herz gebracht, ihm von meinen Erlebnissen mit dem Relax zu erzählen.

2
     
    Ganz Darrowby war erkältet. Die halbe Stadt lag zu Bett und behauptete, es sei die Grippe, und die andere Hälfte nieste sich die Bazillen zu.
    Bei mir stand es auf der Kippe. Während der Regen in schweren Schauern an die Fenster schlug, hockte ich am Kaminfeuer, lutschte Hustenbonbons und stöhnte jedesmal beim Schlucken. Ich verspürte ein bedenkliches Kratzen im Hals und ein Jucken in der Nase. Ich war mutterseelenallein in der Praxis, denn Siegfried war für ein paar Tage verreist, und ich konnte mir einfach keine Erkältung leisten.
    Alles hing von dieser Nacht ab. Wenn ich zu Hause bleiben und mich richtig ausschlafen konnte, hatte ich es überstanden, aber das Telefon kam mir vor wie ein lauerndes, sprungbereites Tier.
    Helen saß neben mir am Kamin und strickte. Sie war nicht erkältet – sie war überhaupt nie krank. Und schon in jenen ersten Tagen unserer Ehe empfand ich das als ziemlich ungerecht. Auch jetzt, fünfunddreißig Jahre später, hat sich daran nichts geändert; und wenn ich schniefe wie ein Walroß, ärgert es mich jedesmal, daß sie mir nicht Gesellschaft leistete.
    Sie hatte gerade eine Reihe zu Ende gestrickt. Es war ein Pullover für mich, schon halb fertig.
    »Wie gefällt er dir?« fragte sie und hielt das Strickzeug hoch. Ich lächelte und wollte ihr gerade sagen, wie fabelhaft ich ihn fände, als das Telefon klingelte. Ich biß mir auf die Zunge.
    Zitternd nahm ich den Hörer ab. Schreckliche Visionen von kalbenden Färsen erschienen vor meinem geistigen Auge. Eine Stunde mit nacktem Oberkörper im Kuhstall würde genügen, um mir den Rest zu geben.
    »Hier ist Sowden von Long Pasture«, krähte eine Stimme.
    »Ja, Mr. Sowden?« Jetzt entschied sich mein Schicksal.
    »Hab da so ‘n großes Kalb. Sieht jämmerlich aus und blökt zum Steinerweichen. Können Sie kommen?«
    Ich seufzte erleichtert auf. Ein Kalb, das sich wahrscheinlich nur den Magen verdorben hatte. Es hätte viel schlimmer kommen können.
    »Gut. In zwanzig Minuten bin ich da«, sagte ich. Die behagliche Wärme unseres kleinen Zimmers ließ mich wieder einmal erkennen, wie ungerecht das Leben war.
    »Ich muß weg, Helen.«
    »Ach, du Armer.«
    »Und das mit dieser Erkältung«, jammerte ich. »Hör nur, wie es gießt.«
    »Ja. Zieh dich nur warm an.«
    Ich blickte sie vorwurfsvoll an. »Die Farm ist zehn Meilen weg von hier, und es ist eine trostlose Gegend. Nirgends ein warmer Fleck.« Ich faßte mich an den schmerzenden Hals. »Eine Fahrt dorthin fehlt mir gerade noch – ich habe bestimmt Fieber.« Ich weiß nicht, ob alle Tierärzte ihren Frauen die Schuld geben, wenn sie einen unerwünschten Ruf bekommen – ich jedenfalls habe es immer so gehalten.
    Anstatt mir einen Tritt zu versetzen, lächelte Helen mich liebevoll an. »Das tut mir wirklich leid, Jim, aber vielleicht dauert es nicht lange. Und wenn du wiederkommst, kriegst du einen Teller heiße Suppe.«
    Ich nickte schmollend. Ja, das war wenigstens ein kleiner Trost. Helen hatte eine wunderbare Rindfleischbrühe mit Sellerie, Lauch und Karotten gekocht, deren Geruch allein einen Toten zum Leben erwecken konnte. Ich gab ihr einen Kuß und machte mich auf den Weg.
    Long Pasture Farm lag in dem Weiler Dowsett, und ich war die schmale Straße dorthin schon oft gefahren. Sie wand sich hinauf zum kahlen Hügelland, und an Sommertagen war es herrlich da oben, wenn der Wind über die weiten Grasflächen strich.
    Aber in dieser Nacht starrte ich unglücklich durch die vom Regen gepeitschte Windschutzscheibe, sah nichts als ein paar Meter Straße vor mir, dachte an die nassen Steinmauern, die sich bis zu den Hügelkuppen erstreckten, wo der Regen über das Moorland zog, Heide und Farnkraut überflutete und die dunkle Erde in Schlamm verwandelte.
    Als ich Mr. Sowden erblickte, kam ich mir beinah gesund vor. Ihn hatte es offensichtlich viel schlimmer erwischt, aber wie alle Bauern, konnte er seine Arbeit trotzdem nicht liegen lassen. Er schaute mich aus tränenden Augen an, hustete mehrmals so heftig, daß es ihn schier in Stücke zu reißen schien, und führte mich mit der Öllampe in eine zugige Scheune. Im schwachen Licht erkannte ich rostige Geräte, einen Haufen Kartoffeln, einen Haufen Rüben und in der Ecke einen
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