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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst
Autoren: Lisa Gardner
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lange, zitternde Schatten. Die Mutter aber war größer, schneller und stärker, angefeuert von ihrem Wahn, während sich das kleine Mädchen nur auf den Mut der Verzweiflung stützen konnte.
    Das erste Streichholz loderte auf. Die Flamme leuchtete im Dunkeln wunderschön orangefarben.
    Die Mutter hielt einen Moment inne, um zu bewundern, was sie zustande gebracht hatte.
    «Großartig, nicht wahr?», flüsterte sie.
    Dann warf sie das brennende Streichholz in die wallende Gardine. In diesem Augenblick trat die ältere Schwester des kleinen Mädchens aus dem Schatten des Wohnzimmers und schlug der Mutter eine Tischleuchte aus Messing auf den Hinterkopf.
    Die Mutter taumelte. Blickte auf. SisSis schlug ein zweites Mal zu und traf die linke Schläfe. Die Mutter stürzte wie ein Baum.
    Die alte Lampe fiel klappernd neben ihr auf den Boden, während der Gardinensaum leise fauchend Feuer fing.
    Das kleine Mädchen war gleich zur Stelle. Es schlug mit bloßen Händen auf die Flammen ein, verschmierte Ruß auf der dreckigen Wand, bis das Feuer gelöscht war und ihre Hände verbrannt.
    Keuchend wandte es sich der Schwester zu. Sie standen sich zu beiden Seiten der am Boden liegenden Mutter gegenüber. Die ältere Schwester blickte auf das kleine Mädchen herab.
    «Wo warst du?», fragte das kleine Mädchen.
    Die Schwester antwortete nicht. Stattdessen blickte sie seitlich an sich herab. Erst jetzt bemerkte das kleine Mädchen, dass sich auf dem grauen Nylon des Wintermantels der Schwester ein dunkler Fleck ausbreitete.
    «SisSis?»
    Das kleine Mädchen legte der Schwester seine Hand auf die Seite und spreizte die Finger über dem dunklen Nass, das aus dem Grau hervorquoll und das Mondlicht aus dem Zimmer stahl.
    Das kleine Mädchen wusste jetzt, warum es die Schwester nicht oben im Flur angetroffen hatte. Sie war als Erste von der Mutter geweckt und nach unten gebracht worden, auf Geheiß der Stimmen, die ihr zugeflüstert hatten, was sie mit der älteren Tochter tun sollte.
    Das kleine Mädchen sagte nichts mehr. Es streckte die Hand aus. Die Schwester ergriff sie, wankte und knickte in den Knien ein. Das kleine Mädchen sackte mit ihr auf den klebrigen Küchenboden. Sie hielten sich, die Arme über der Mutter ausgestreckt, bei der Hand. Wie oft waren sie schon gemeinsam in diese Küche geschlichen, um zu naschen, was sie vor ihrer Mutter geheim gehalten hatten, oder um einfach nur zusammen zu sein, weil in einem Krieg jeder einen Verbündeten braucht.
    Das kleine Mädchen war nicht dumm. Es wusste, dass seine Mutter der älteren Schwester noch häufiger und schlimmer weh tat. Es wusste, dass SisSis solche Strafen erduldete, weil irgendjemand dafür büßen musste, wenn die Mutter in eine ihrer Stimmungen verfiel. Und so war SisSis der brave, tapfere Soldat, der sich schützend vor die kleine Schwester stellte.
    «Tut mir leid», flüsterte SisSis jetzt. Eine kurze Formel der Entschuldigung.
    «Bitte, SisSis, bitte», bettelte das kleine Mädchen. «Lass mich nicht allein. Ich rufe die Nummer neun-eins-eins. Es wird Hilfe kommen. Warte. Warte auf mich.»
    Die ältere Schwester drückte ihre Hand noch fester. «Ist schon okay.» Sie schnappte in kleinen hastigen Zügen nach Luft. «Irgendwann muss jeder sterben, oder? Sei brav. Ich liebe dich. Sei tapfer …»
    Die Hand der älteren Schwester wurde schwach und fiel zu Boden. Das kleine Mädchen sprang auf und eilte zum Telefon, um neun-eins-eins zu wählen, wie es ihm die ältere Schwester beigebracht hatte für den Fall, von dem sie wussten, dass er eines Tages eintreffen würde. Aber dass es schon so bald sein würde, hatten sie nicht geahnt.
    Die Kleine gab den Namen der Mutter und die Adresse durch. Sie bat darum, einen Krankenwagen zu schicken. Sie sprach deutlich und unaufgeregt. Auch das war so eingeübt worden. Gemeinsam mit der älteren Schwester hatte sie sich vorbereitet und strategisch geplant.
    Ihre Mutter hatte auch ihre hellen Momente gehabt. Irgendwann musste jeder sterben, und es war durchaus ratsam, tapfer und brav zu sein.
    Die Kleine legte den Hörer auf die Gabel zurück und eilte zur Schwester. Aber als sie bei ihr war, brauchte SisSis sie nicht mehr. Ihre Augen waren geschlossen, und nichts, was das kleine Mädchen auch anstellte, öffnete sie wieder.
    Ihre Mutter rührte sich.
    Die Kleine bemerkte es und richtete den Blick auf die alte Tischleuchte aus Messing.
    Sie hob sie vom Boden auf und sah das silberne Mondlicht auf der stumpfen Oberfläche
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