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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst
Autoren: Lisa Gardner
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nicht vor den schrecklichen Übeltätern, der namenlosen Gefahr, die im nächtlichen Schatten lauerte.
    Manchmal flohen sie, um nicht aus der Übung zu kommen, und weil dann die Zeit zum Arbeiten fehlte, kam kein Geld herein für Miete, Heizung oder Lebensmittel. Sie, die Übeltäter, kannten viele Wege, die Familie des kleinen Mädchens hungern und frieren zu lassen. Und dass sie sie nicht zur Ruhe kommen ließen, war das Schlimmste überhaupt.
    Inzwischen konnte sich die Kleine so lautlos wie ein Schatten bewegen und im Dunkeln so scharf und deutlich sehen wie eine Katze. Es sei denn, ihr knurrte der Magen oder sie zitterte am ganzen Körper. Womöglich würde sie am Ende so hungrig sein, so durchgefroren oder so müde, dass sie ihre Familie im Stich lassen müsste.
    Ihre Mutter schien zu ahnen, was sie dachte. Sie drehte sich halb zu ihr um und nahm sie an die Hand.
    «Sei brav», flüsterte die Mutter. «Kind …»
    Ihre Stimme brach ab. Dass sie Gefühle zeigte, was selten genug der Fall war, erschreckte die Kleine mehr als Dunkelheit, Kälte oder Stille. Sie klammerte sich an ihre Hand und spürte, dass sie nicht aus Übungszwecken das Haus verließen. Irgendetwas war geschehen.
    Man hatte sie aufgestöbert. Es wurde ernst.
    Die Mutter setzte sich wieder in Bewegung. Sie zog das kleine Mädchen durch die enge Küche. Der Mond schien durch die Fenster, deren Sprossen fingerdünne Schatten auf den schimmernden Boden warfen.
    Die Kleine sträubte sich. Am liebsten hätte sie dem Irrsinn ein Ende gemacht. Sie wollte zurück nach oben laufen, sich unter der Bettdecke vergraben.
    Oder zur Tür hinausstürmen. Dem Zuhause entfliehen, der ewigen Anspannung, den harten Gesichtszügen ihrer Mutter. Sie könnte zu dem alten weißen Haus auf der anderen Seite des Waldes rennen. Dort wohnte ein Junge. Manchmal beobachtete sie ihn heimlich, versteckt hinter einem dicken Eichenstamm. Zweimal hatte sie ihn dabei ertappt, dass er ihr mit nachdenklicher Miene nachschaute. Aber sie hatte nie ein Wort mit ihm gewechselt. Anständige Mädchen unterhielten sich nicht mit Jungen. Soldaten verkehrten nicht mit dem Feind.
    SisSis. Sie konnte ohne ihre ältere Schwester nicht sein. Wo war sie?
    «Irgendwann muss jeder sterben», murmelte ihre Mutter. Mitten in der Küche war sie abrupt stehen geblieben. Sie schien das Mondlicht zu betrachten. Aber vielleicht lauschte sie auch nur.
    Zum ersten Mal gab das kleine Mädchen einen Laut von sich. «Mommy …»
    «Still, Kind! Sie könnten vorm Haus sein. Hast du daran gedacht? Gleich dort. Draußen, neben dem Fenster. Mit dem Rücken zur Wand. Vielleicht hören sie jeden unserer Schritte. Sie malen sich wahrscheinlich aus, was sie mit uns anstellen werden, und sind schon ganz wild darauf.»
    «Mommy …»
    «Wir sollten ihnen Feuer unterm Arsch machen. Die Wand abfackeln. Und hören, wie sie vor Wut schreien, wie aufgescheuchte Hühner umeinandertanzen.»
    Die Mutter wandte sich plötzlich der Fensterfront zu. Der Mond schien ihr ins Gesicht und zeigte ihre großen dunklen Augen. Sie lächelte.
    Das Mädchen wich zurück und zerrte sich von ihrer Hand los. Die Mutter aber packte wieder zu. Sie hatte etwas vor. Etwas Fürchterliches. Etwas Entsetzliches.
    Etwas, das denen schaden sollte, in Wirklichkeit aber, wie das kleine Mädchen aus Erfahrung wusste, nur ihm und seiner großen Schwester weh tun würde.
    Die Kleine wimmerte. «Mommy», flehte sie und suchte in den großen dunklen Augen nach einem vertrauten Schimmer.
    «Streichhölzer!», sagte die Mutter, mit lauter Stimme jetzt. Sie klang fast ausgelassen, wie bei einer Geburtstagsparty, wenn es darum ging, die Kerzen auf dem Kuchen anzuzünden. Wie lustig! Wie schön.
    Das kleine Mädchen wimmerte wieder. Es versuchte, sich von der Mutter zu lösen, und zerrte mit aller Kraft an ihrer Hand.
    Aber es nützte nichts. Die Finger der Mutter waren in solchen Momenten wie Krallen. Der ganze Körper strahlte eine Kraft aus, gegen die nicht anzukommen war. Man musste ihr nachgeben.
    Die Mutter riss die oberste Schublade des Küchenschranks auf. Mit der Linken hielt sie die Tochter am Arm gepackt, während sie mit der Rechten in der Schublade herumwühlte. Leuchtend weißes Plastikbesteck fiel auf den ausgetretenen Linoleumboden. Ihm folgten Ketchup-, Senf- und Croutontütchen, die sie im Schnellimbiss hatten mitgehen lassen und von denen das kleine Mädchen manchmal heimlich naschte, obwohl die Mutter glaubte, dass man von Hunger stärker
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