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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst
Autoren: Lisa Gardner
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wenn ich ihnen entgegenkam.
    Mir gefiel, was wir taten. Ich wollte einfach nur mit ihnen zusammen sein.
    Kinder einer kleinen Ortschaft hegen irgendwann unweigerlich Großstadtträume. Jackie zählte die Tage bis zum Schulabschluss. Sie hatte genug von neugierigen Nachbarn, dem Volkstheater und einer Poststelle, die vor allem als Umschlagplatz für die neuesten Klatschgeschichten diente. Sie wollte in Boston studieren, die Großstadt auf den Kopf stellen und ein glamouröses Leben führen.
    Auf ihre stille Art stellte Randi unsere Freundin noch in den Schatten. An einem verschneiten Wochenende im Januar lernte sie auf der Skipiste einen Medizinstudenten von der Brown University kennen. Sie heirateten am 1. Juli, zwei Wochen nach unserer Schulabschlussfeier. Randi packte ihre Kindheit in vier Pappkartons und fuhr nach Providence, um sich für den Rest ihrer Tage als Arztgattin zu bescheiden.
    Jackie bekam ein Stipendium. Sie verließ unseren Ort im September, und nach zehn gemeinsamen Jahren wusste ich zum ersten Mal nichts mit mir anzufangen. Ich zog Tante Nancys Parkettboden ab und lackierte ihn neu. Dampfbügelte die Vorhänge. Shampoonierte das gesamte Mobiliar. Ordnete die Bücher in den Regalen.
    Ende September nahm mich Tante Nancy beiseite.
    «Geh», sagte sie sanft und bestimmt. «Breite deine Flügel aus, und dann, wenn du bereit bist, komm zu mir zurück.»
    Ich landete in Arvada, Colorado. An der Seite eines Typen, dem ich nie hätte folgen sollen. Ich tat Dinge, von denen Tante Nancy besser nie etwas erfährt, und machte die kummervolle Erfahrung, dass man nicht immer nur parieren sollte. Früher oder später muss man eigene Wege finden, unabhängig von der geliebten Tante und den beiden besten Freundinnen.
    Nachdem die Beziehung in die Brüche gegangen war, beschloss ich, nicht mit eingezogenem Schwanz nach Hause zurückzukehren, und bewarb mich als Telefonistin in der Notrufzentrale. Was mich am meisten daran reizte, war die Tatsache, dass ich dafür keinen Collegeabschluss brauchte, nur flinke Finger und ein schnelles Reaktionsvermögen. Weil das so ziemlich die einzigen Fähigkeiten waren, die ich besaß, ließ ich es auf einen Versuch ankommen. Für dreißigtausend Dollar im Jahr machte ich jede Menge Überstunden, gab die Hoffnung auf ein Privatleben auf und fand tatsächlich zu einer Art Berufung.
    Ich arbeitete in einer Leitstelle mit zweiundzwanzig Telefonanschlüssen, vier Funkgeräten und fast zweihunderttausend Anrufen pro Jahr. Wer nach Polizei, Feuerwehr, Notärzten oder Tierfängern verlangte, meldete sich bei uns. Wir leiteten die Hilferufe an einen Notarzt, die Feuerwehr oder an eine übergeordnete Leitstelle weiter, kümmerten uns aber selbst um die Sache, wenn Hundefänger oder Polizei gefragt waren, wenn man uns verarschen wollte, wenn man aus dem, was gesagt wurde, nicht schlau werden konnte oder wenn jemand tatsächlich in Panik und hysterisch war. Und die Palette der Anrufe war ziemlich breit.
    Ich hatte einmal Dienst, als meine Kollegin einer Frau das Leben rettete, indem sie ihr riet, so laut zu schreien, wie sie nur konnte. Und sie schrie tatsächlich, bis die Einbrecher in ihrem Haus die Nerven verloren und Reißaus nahmen. Ein anderes Mal ließ sich meine Kollegin von einem Mädchen das Auto beschreiben, von dem es angefahren worden war. Die junge Frau starb am Unfallort, ehe die Polizei zur Stelle war, aber dank ihrer aufgezeichneten Aussage konnte der flüchtige Fahrer ermittelt und eingelocht werden. Manchmal weinte ich mit denen, die anriefen; manchmal schrie ich mit ihnen. Einem fünfjährigen Jungen, der sich in einem Wandschrank versteckt hielt, während seine Eltern Porzellan zerschlugen und sich Beleidigungen an den Kopf warfen, sang ich einmal ein Wiegenlied.
    Was aus der Sache geworden ist, weiß ich nicht. Aber an den Jungen denke ich manchmal immer noch. Häufiger, als mir lieb ist.
    Nach sechs Jahren verließ ich Arvada und kehrte in die Berge zurück. Ich hatte, glaube ich, ziemlich abgenommen. Ich glaube, ich sah nicht gerade gut aus.
    «Oh, Charlene Rosalind Carter Grant», murmelte Tante Nancy, als sie mich in der Ankunftshalle in Empfang nahm.
    Sie drückte mich an ihren Busen, und ich fing an zu weinen.
    Meine Tante hatte recht gehabt: Ich musste weggehen, um zurückkehren zu können. Und ich fühlte mich willkommen unter den Menschen am Ort, die mir offen ins Gesicht schauten und mir zulächelten. Tante Nancy war meine Familie, und diese kleine Stadt war
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