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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst
Autoren: Lisa Gardner
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immer und immer wieder, sodass er jedes Mal hübsch, frisch und wie neu aussah.
    Saubermachen bedeutete Kontrolle ausüben. Saubermachen hielt die Schatten auf Abstand.
    Am ersten Schultag begleitete mich Tante Nancy auf dem Weg zur Schule. Ich trug brandneue Sachen einschließlich der schwarzen Mary-Janes-Schuhe, die ich ein halbes Jahr lang fast zwanghaft polierte. Ich kam mir sehr auffällig vor. Viel zu neu. Wie gerade erst ausgepackt.
    An das Dorfleben musste ich mich noch gewöhnen. Nachbarn, wohin ich schaute. Leute, die Blickkontakt aufnahmen und lächelten.
    «Dein Teeservice ist angelaufen», informierte ich meine Tante, kurz bevor wir das Schulgebäude erreichten. «Ich gehe nach Hause und mache es wieder richtig sauber.»
    «Du bist ein seltsames Kind, Charlene.»
    Ich blieb stehen und fuhr mir mit der Hand über die Narbe, die manchmal noch juckte. Ich hatte mehrere Narben: eine, fein wie ein Spinnennetz, auf dem linken Handrücken, ganz zu schweigen von der hässlichen Operationsnarbe am rechten Ellbogen und den Brandnarben am rechten Oberschenkel. Ich war mir ziemlich sicher, dass andere Kinder keine solchen Makel hatten. Ich war mir ziemlich sicher, andere Mütter «liebten» ihre Kinder nicht annähernd so sehr, wie es meine Mutter zu tun geschworen hatte. «Ich will nicht dahin.»
    Auch meine Tante war stehen geblieben. «Charlie, es ist Zeit. Ich will, dass du jetzt durch diese Tür gehst. Mit hoch erhobenem Kopf. Du bist das tapferste, zäheste kleine Mädchen, das ich kenne, und ich will, dass du das weißt. Hörst du? Keines der anderen Kinder wird etwas gegen dich haben.»
    Ich gehorchte meiner Tante und betrat das Schulgebäude. Mit hoch erhobenem Kopf. Im Klassenzimmer nahm ich auf der hintersten Bank Platz. Links saß ein kleines Mädchen; es wandte sich mir zu und sagte: «Hi, ich bin Jackie.» Und das Mädchen auf der rechten sagte: «Hi, ich bin Randi.»
    Und plötzlich hatte ich zwei Freundinnen.

    Trotzdem habe ich ihnen nie etwas gesagt.
    Sie wissen, was ich meine, oder?
    Dass man selbst den besten und allerliebsten Freundinnen, mit denen man lacht und weint, denen man sonst jeden Quatsch anvertraut, sei es die erste Schwärmerei oder den finalen Herzschmerz – dass man selbst denen nicht wirklich alles sagt.
    Selbst den besten Freundinnen gegenüber hat man Geheimnisse.
    Lassen Sie sich das von mir gesagt sein, von mir, die während der vergangenen zwei Jahre das meiste über unsere Geheimnisse am eigenen Leib erfahren hat und immer noch lebt.

    Wir entwuchsen unserer Kindheit gemeinsam. Stromerten im Sommer durch die Wälder, wo wir aus abgefallenen Ästen Baumbuden bauten und kleine Gelage mit Eichelsuppe und Kiefernzapfenparfait feierten. An Bächen ließen wir Bötchen aus Laub um die Wette treiben. Wir entdeckten versteckte Wasserlöcher, in denen wir schwimmen konnten. Mobiltelefone gab es nicht, also knüpften wir Konservendosen mit Schnüren aneinander.
    Abends und morgens half ich Tante Nancy im Haushalt. Aber die Nachmittage hatte ich für mich. Ich verbrachte jede freie Minute mit meinen beiden besten Freundinnen. Schon damals war Jackie diejenige, die unsere Unternehmungen organisierte. Sie wollte immer alles planen und hätte wohl auch Marketingstrategien entworfen oder auf zukünftige Spieloptionen spekuliert, wenn wir sie gelassen hätten. Randi war ruhiger. Sie hatte wunderschöne weizenblonde Haare, die sie hinter die Ohren strich. Am liebsten spielte sie in der Baumbude, die sie unermüdlich aufräumte und mit Beeren und Blättern so hübsch dekorierte, dass man sich darin wie zu Hause fühlen konnte.
    Ich machte Tante Nancy auf die Fähigkeiten meiner Freundin aufmerksam, und während unserer High-School-Jahre half Randi an den Wochenenden in der Pension, wo sie für Dekoration und Blumenschmuck sorgte. Jackie kam auch manchmal. Sie richtete der Tante den ersten Computer ein und machte sie, als die Zeit gekommen war, mit dem Internet vertraut.
    Ich hatte weder Jackies Temperament noch Randis Kunstsinn, verstand mich selbst als Bindeglied und tat, was sie wollten. Wenn sie ein neues Hobby für sich entdeckten, nahm auch ich es an. Ich hatte schon früh gelernt zu parieren und parierte, so gut es ging.
    Aber wie gesagt, ich liebte sie. Meine ersten Jahre hatte ich im Dunkeln verbracht; dann kam ich in die Berge von New Hampshire und ans Licht. Randi und Jackie lachten. Sie fragten mich nach meiner Meinung, lobten mich, wenn mir etwas gelang, und lächelten mir zu,
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