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Der Tag, an dem du stirbst

Der Tag, an dem du stirbst

Titel: Der Tag, an dem du stirbst
Autoren: Lisa Gardner
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ich …
    Ich konnte nicht zulassen, dass sie dich, Charlie, wieder zu sich holte. Du hattest Freundinnen und warst glücklich, und ich … ich habe dich zu sehr geliebt, als dass ich es übers Herz gebracht hätte, dich zu ihr zurückzuschicken. Also bin ich auf diesen teuflischen Handel eingegangen. Ich habe ihre Bedingungen akzeptiert und dich, Abigail, geopfert, um Charlie retten zu können. Und tief im Herzen hatte ich gehofft, dass du mir eines Tages verzeihen würdest.»
    Tante Nancy schlug einen anderen Ton an; ihre Stimme wurde resoluter. Zu spät bemerkte ich, was sie vorhatte. Zu spät verließ ich meine Deckung auf der anderen Seite des Zimmers.
    Meine Tante hatte sich hinter dem Sofa aufgerichtet und schaute Abigail ins Gesicht.
    «Ich hatte gehofft», fuhr sie tapfer fort, «als Schwester wärst du dankbar dafür, dass zumindest eine von euch beiden davongekommen war.»
    Abigail starrte sie an. Für einen kurzen Moment wähnte ich die Krise überwunden. Ich dachte, Abigail …
    Sie drückte ab. Ihre Sig Sauer krachte. Meine Tante gab einen seltsam zischenden Laut von sich, fuhr ein Stück links herum und streckte den Arm aus, um sich an der Sofalehne abzustützen. Als Abigail wieder auf sie anlegte, schleuderte ich meinen Stiefel auf sie.
    Er traf sie am Kopf genau in dem Moment, da sich der Schuss löste. Wieder war dieses Zischen von meiner Tante zu hören. Abigail wirbelte herum und richtete die Waffe auf mich. Ich hatte inzwischen auch den zweiten Stiefel ausgezogen und ließ ihn durch die Luft fliegen.
    An der Schulter getroffen, geriet sie ein wenig aus dem Gleichgewicht. Sie musste neu zielen, doch bevor sie mich im Visier hatte, flogen ihr drei Sofakissen entgegen.
    Unwillkürlich zog sie den Kopf ein. Ich nutzte die Gelegenheit und rannte durchs Zimmer.
    Nicht weg von ihr.
    Sondern geradewegs auf sie zu. Ich sprang über den Teetisch und hechtete über das Sofa hinweg direkt in die Schusslinie.
    Vor Schreck riss sie die Augen auf. Ihr bleiches Gesicht schimmerte im Dunkeln, was eine schmerzliche Erinnerung in mir freisetzte, die Erinnerung an ein anderes bleiches Gesicht, an einen Menschen, den ich liebte und glücklich sehen wollte.
    Doch das würde mir wohl nie gelingen. Was immer ich versuchte, sollte nicht reichen. Ich schadete mir nur selbst.
    Unmittelbar vor meiner kleinen Schwester baute ich mich auf. Die heiße Mündung ihrer Sig Sauer berührte mein Brustbein.
    «Du hättest mich retten müssen», flüsterte sie heiser.
    «Ich habe mich für dich aufgeopfert. Immer und immer wieder. Aber es reichte nie. Ich liebe dich, Abby. Und wenn auch du mich lieben würdest, hättest du, wie es Tante Nancy gerade sagte, froh für mich sein können.»
    «Verdammt, ich hasse …»
    «Pssst.»
    Die Hand meiner kleinen Schwester bebte. Sie legte den Finger um den Abzug. In Windeseile zog ich mit der Faust den Kuli aus meinem Haarknoten und rammte ihr die Spitze in den Unterarm knapp über dem Handgelenk.
    Ein alter Kneipiertrick. Scheinbar harmlos, tut aber höllisch weh, bevor das Blut fließt und die Hand taub wird. Der Gegner ist außer Gefecht gesetzt.
    Reflexartig öffnete sich Abigails rechte Hand. Der Schmerz verzog ihren Mund. Die Pistole fiel zu Boden. Ich trat sie mit dem Fuß weg, als mich ihre linke Faust an der Schläfe traf.
    Sie prügelte auf mich ein, und ich versuchte, mich zu verteidigen. Plötzlich flog die Hintertür auf. Ein Hund rannte herbei, während eine Frau brüllte: «Polizei! Die Hände bleiben da, wo ich sie sehen kann!»
    Statt dieser Aufforderung Folge zu leisten, versuchte ich, Abigails Finger aufzubiegen, die sich um meinen Hals klammerten. Sie drückte so fest zu, dass mir schwarz vor Augen wurde und Sternchen über die Netzhaut flackerten. Mir drohte der Schädel zu platzen.
    Sie hatte erstaunlich viel Kraft. Es schien, als ob sie mir nicht nur die Luft abzuschnüren versuchte, sondern alles daransetzte, mir den Hals zu brechen.
    Ich taumelte rückwärts gegen den niedrigen Teetisch, verlor das Gleichgewicht und kippte seitlich zu Boden.
    «Aufhören! Polizei!»
    Meine kleine Schwester kauerte über mir. Sie hielt mich immer noch gepackt und grinste teuflisch. Dann verschwammen die Konturen, und ich blickte nicht mehr in das Gesicht meiner Schwester, sondern sah meine Mutter vor mir.
    Irgendwann muss jeder sterben. Sei tapfer …
    Ich hörte auf, an ihren Händen zu zerren, und machte Ernst. Drei, vier Haken trafen auf ihre Nieren, ein Uppercut unters Kinn, und
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