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Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm
Autoren: Krystyna Kuhn
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wünschte sich, er hätte dieses Geräusch nie hören müssen. Es würde sich für immer in sein Gedächtnis eingraben. Er wusste es. Genauso wie er wusste, dass er Debbie stoppen musste. Nicht weil dieser Mann, der vor ihm im Schnee lag und über dessen Gesicht eine breite Blutspur lief, es nicht verdient hätte, sondern ganz einfach, weil er, Chris, Fragen hatte. Fragen, auf die er noch Antworten wollte.
    Er sah, wie Debbie erneut den Spaten durch die Luft schwang, wunderte sich, woher sie plötzlich ihre Energie nahm und dass er es überhaupt schaffte, sie zu stoppen.
    Chris packte die Schultern des Mädchens und riss sie nach hinten. Vor Überraschung ließ sie das Werkzeug fallen, taumelte, machte, um das Gleichgewicht zu halten, drei Schritte nach vorne, wobei sie über Forster stolperte.
    Chris sah, wie die schwerfällige Deborah Wilder für den Bruchteil einer Sekunde in der Luft schwebte, als ob die träge Masse ihres Körpers sich nicht entscheiden konnte, wohin er fallen sollte.
    Grotesk war auch die Art, wie sie nun vornüberkippte und mit schrillen Schreien in der Versenkung des Grabes verschwand. Und er hätte sich augenblicklich um sie gekümmert, hätte er nicht aus den Augenwinkeln bemerkt, wie Forster sich erneut aufrichtete. Chris hätte nicht vermutet, dass er sich nach Debbies letztem Treffer überhaupt noch bewegen konnte. Doch schon stand er wieder, wischte sich mit der Hand das Blut aus dem Gesicht, beiläufig, als ob er schwitzte, und schwankte auf Julia zu, die wie erstarrt dastand.
    Wo war die Waffe? Hatte er sie noch in der Hand? Nein, Chris konnte sie nicht erkennen.
    »Lauf!«, schrie er Julia zu, aber sie rührte sich nicht. Ihm schien, als stände dahinter Absicht, als fordere sie das Schicksal absichtlich heraus.
    Sie sahen sich über Forsters Schulter hinweg an. Chris begriff, was sie ihm mit diesem Blick mitteilen wollte.
    »Julia!«, rief er. »Tu, was ich dir sage! Einmal!«
    Sie schüttelte langsam den Kopf.
    Chris hörte hinter sich Debbies Weinen, hörte sie laut keuchen, doch er ließ Forster nicht aus den Augen. Es kostete ihn unendliche Selbstbeherrschung, sich nicht auf ihn zu stürzen.
    Aber während Julia mit dem Professor sprach, suchte sie immer wieder Chris’ Blick, als wollte sie sagen: »Ich will das hier. Ich will das durchziehen. Alleine.«
    »Waren Sie dabei?«, hörte Chris sie fragen. Ihre Stimme klang ganz sachlich, verriet weder Angst noch Spott oder Wut. Eher Neugierde und vielleicht – verzweifelte Hoffnung. Worauf?
    »Nein! War ich nicht.«
    »Woher wissen Sie dann, was dort oben auf dem Ghost passiert ist?«
    »Ich weiß es – aus sicherer Quelle.«
    »Seit wann?«
    »Was?«
    »Seit wann wissen Sie es.«
    »Seit ein paar Wochen.«
    Die Stille, die folgte, wurde nur durchbrochen von dem Nachhall des Sturms – einzelne Windböen, die über die Lichtung fuhren, Schnee aufwirbelten und ihn Chris in die Augen trieben.
    Hinter ihm war noch immer Debbie zu hören. Keuchen. Leises Jammern. Erde, die nach unten fiel.
    Und dann wieder Julia: »So viele Jahre sind vergangen und jetzt glauben Sie plötzlich, die Wahrheit zu kennen?«
    »Denken Sie, ich könnte vergessen, was damals passiert ist? Ich habe meinen Bruder geliebt. Sie von allen müssten das eigentlich verstehen!« Forster machte einen winzigen Schritt nach vorne. Chris packte ihn an der Schulter und riss ihn zurück.
    »Lass los, Chris!«, rief Julia.
    Er schüttelte den Kopf. »Es reicht!«
    »Nein, lass ihn reden!« Sie kniff die Augen zusammen und sah für einen winzigen Moment Robert verdammt ähnlich, wenn er einen mathematischen Beweis führte. Als wüsste sie genau, was sie tat.
    »Sie haben Ihre Freundin doch gehört«, sagte Forster. »Ich rede nur, wenn Sie mich loslassen.«
    Chris zögerte, doch dann lockerte er tatsächlich seinen Griff, während seine Blicke weiter den Boden nach der Waffe absuchten.
    »Wir waren alle in demselben Jahrgang. Ich, Ihr Vater und die anderen, deren Namen auf dem Stein hier stehen. Es war der Sommer vor unserem letzten Jahr.« Forster hob die Hand und wischte das Blut weg.
    Chris, der hinter ihm stand, konnte sein Gesicht nicht sehen, doch die Wunde an der Stirn schien heftig zu bluten. Und Forster hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.
    »Und weiter?«
    »Wir hatten alle als Schwerpunkt Philosophie gewählt.«
    »Und Ihr Bruder...«
    »War zwei Jahre unter uns, aber Bishop nahm ihn trotzdem auf. Paul...ihm ist alles zugeflogen. Was er anpackte, machte er
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