Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm
Autoren: Krystyna Kuhn
Vom Netzwerk:
einfach loszutreten, auf den Mann am Boden einzuschlagen, aber er kannte die Antwort noch nicht.
    »Weiter!«
    »Sie sollten dort oben...« Forster keuchte.
    »Was?«
    »Es ging um Wahrnehmung. Sie sollten sich gegenseitig beobachten. Sollten alles aufschreiben, was die anderen taten, sagten. Ihr Verhalten. Ihre Gestik. Ihre Mimik. Jedes Detail. Jede Kleinigkeit. Tag und Nacht. Verstehst du? Sie waren wie Laborratten dort oben auf dem Berg. Nein! Sie waren mehr als Ratten. Sie waren Wissenschaftler und Ratte zugleich. Aber jeder dachte, nur er wäre der Wissenschaftler und die anderen die Ratten.«
    Forster versuchte zu lachen, stattdessen hustete er.
    »Warum?« Chris schüttelte den Kopf. »Wozu sollte das gut sein?«
    »Ich sage doch Wahrnehmung! Dein verfluchter Vater wollte zeigen, dass wir die Welt verschieden sehen. Und das tat er nicht etwa aus wissenschaftlicher Neugier. Nein! Er hatte einen Buchvertrag unterschrieben – wollte nicht nur in der Fachwelt Furore machen!«
    »Aber sie sind freiwillig dort hochgegangen, oder?«, schrie Chris. »Er hat sie nicht dazu gezwungen. Sie wollten es so.«
    Forster versuchte, sich aufzurichten, aber Chris drückte ihn zurück in den Schnee.
    »Sprechen Sie weiter, Mann! Was ist dann passiert?«
    »Chris!«, hörte er Julia wieder rufen. »Hör auf!«
    »Was ist passiert?«
    »Sie sind nicht zurückgekommen. Keiner.« Forster flüsterte nur noch.
    »Woher wollen Sie dann wissen, dass Mark de Vincenz Ihren Bruder umgebracht hat?«
    Forster schüttelte den Kopf, der inzwischen tief in den Schnee eingesunken war.
    »War es der Wachmann? War es Ted Baker, der Ihnen das verraten hat?«
    Wieder Kopfschütteln.
    »Warum musste er dann sterben? Warum haben Sie Baker getötet?«
    Chris konnte die Antwort kaum verstehen.
    »Was? Sprechen Sie lauter!«
    ». . . hat mich gesehen...zur falschen Zeit ...am falschen Ort.«
    Chris holte hörbar Luft. War das der ganze Grund dafür, dass ein Mensch sterben musste? Dass er zur falschen Zeit einfach nur am falschen Ort gewesen war? Er konnte es nicht glauben, wollte es nicht. Es machte ihn rasend.
    »Wer hat es Ihnen erzählt?«
    Forster rührte sich nicht. Er hatte das Bewusstsein verloren.
    »Ist er tot?«, hörte er Debbie von irgendwoher wimmern. »Ich hoffe es. Ich hoffe, er ist tot, tot, tot!«
    »Hör auf zu flennen, Debbie«, murmelte er. »Hör einfach auf!«
    Was sie nicht tat.
    Doch im nächsten Moment hörten sie Stimmen aus dem Wald.
    Chris ließ Forster los und erhob sich. Stapfte durch den Schnee zu Julia und nahm sie in die Arme. In seinem Kopf drehte sich alles und sein Bewusstsein bewegte sich auf einem schmalen Grat zwischen Realität und Traum. Warum nur war er hierhergekommen? Das Tal war nicht einfach nur ein Ort–oder... nein! Im Grunde war er genau das. Ein Punkt auf einer Landkarte. Das Problem war nur, dass die Menschen nicht davon loskamen. Sie waren nicht fähig, ihn einfach hinter sich zu lassen. Denn sie konnten die Erinnerungen nicht vergessen, die mit diesem Tal verknüpft waren und die sich mit ihren rostigen Widerhaken tief in ihr Bewusstsein eingegraben hatten.
    Jemand rief seinen Namen, dann Julias.
    »Und ich?«, schrie Debbie unten aus dem Grab. »Warum ruft keiner nach mir?«

32. Kapitel
    D er Schnee in den Bergen war liegen geblieben und die Schäden, die der Sturm angerichtet hatte, waren beseitigt.
    Elf Tage waren seit dem 11. November vergangen, als sich die Nachricht über Forsters Tod rasend schnell um die Mittagszeit in der Mensa des Grace College verbreitete.
    Forster war tot.
    Professor Peter Forster, Leiter des Französisch-Departments, Ehrendoktorwürde der Universität Paris I Panthéon-Sorbonne und Preisträger des French Literature Award, hatte sich in seiner Zelle im Gefängnis von Vancouver erhängt. Sein Abschiedsbrief bestand nur aus einer Zeile: Finden Sie die Leiche meines Bruders.
    Die Nachricht kam, als sich die Lage im College langsam wieder beruhigt hatte und alle froh waren, nicht länger den Fragen der Polizei ausgesetzt zu sein. Insgesamt jedoch hatte der Fall für erstaunlich wenig Aufruhr gesorgt. Die Collegeleitung schaffte es tatsächlich, ihnen die Presse vom Leib zu halten, und in keinem Bericht tauchten ihre Namen oder der des Colleges auf.
    Chris war nicht überrascht und allenfalls schockiert darüber, dass Forster sich so lange Zeit gelassen hatte. Schließlich verdankte er ihm, dass er jetzt Probleme hatte, das Steak zu schneiden, das vor ihm auf dem Teller
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher