Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sturm

Der Sturm

Titel: Der Sturm
Autoren: Krystyna Kuhn
Vom Netzwerk:
Schweigen zu bringen.
    Die anderen sahen ihn an und lachten. Und in diesem Moment stellte Chris es sich vor. Sieben Augenpaare, die dich beobachten, die dich verfolgen, denen nichts entgeht. Und die alles notieren, was du tust, was du sagst, deine Gestik, deine Mimik. Und du weißt, es treibt dich in den Wahnsinn, doch du kannst nicht fliehen, denn du bist dort oben auf dem Ghost angewiesen auf die anderen.

Epilog
    E s war ein Tag wie auf einer Postkarte, als sie sich auf den Weg machten. Der Himmel war von einem wahnsinnigen Winterblau und der Lake Mirror sah aus, als spiegele sich die Erde vom Weltall aus in seinem Wasser. Die Luft war kalt und trocken und die Sonne schien so hell, dass der Schnee, der die Welt um sie herum einhüllte, in den Augen blendete.
    Chris kannte solche Tage.
    Bei solchem Wetter war er früher oft mit dem Snowboard losgezogen und die Hänge heruntergerast, ohne an die Gefahren zu denken. Damals hatte er sich als Held gefühlt, sich an der Geschwindigkeit berauscht. Aber nie hatte er die Landschaft als so schön empfunden wie an diesem Tag im Dezember kurz vor Weihnachten.
    Julia hatte über einen Monat gebraucht, bis sie überhaupt in der Lage war, wieder zum Gedenkstein zu gehen. Chris und David waren dort gewesen, nur um zu sehen, dass jemand das leere Grab zugeschaufelt und das Kreuz entfernt hatte. Was übrig geblieben war, war die Lichtung mit den gefällten Bäumen. Der runde freie Platz, in dessen Zentrum der Stein mit den Namen stand.
    Morgen würden sie zusammen zu seiner Mutter fahren, um dort die Weihnachtsferien zu verbringen. Chris war nervös und aufgeregt, aber als Julia ihn gebeten hatte, ihn hierherzubegleiten, hatte er gewusst, dass der Moment gekommen war. Der Moment der Wahrheit.
    11. November. Remembrance Day.
    Der Tag, der Toten zu gedenken.
    Chris blickte sich um und sah die Spuren, die Julia und er im Schnee hinterließen.
    Sein Vater hatte gesagt, Erinnerungen sind die Fußstapfen, die wir in unserem Leben hinterlassen; ohne sie sehen wir im Rückblick nur eine unbetretene Schneefläche oder die Abdrücke von jemand anderem.
    Es war unmöglich, diesen 11. November zu vergessen, sosehr er es auch wollte, sosehr er sich wünschte, einfach nicht mehr daran denken zu müssen. Aber dieses Datum war für immer in sein Gedächtnis eingebrannt. Der Tag, an dem sein Vater starb, der Tag, an dem Julia hätte sterben können.
    Julia sprach kein einziges Wort, bis sie die Lichtung erreicht hatten, und Chris drängte sie nicht.
    Zusammen standen sie lange vor dem Stein und starrten ihn an. Immer wieder las Chris die Liste der Namen und immer wieder blieb er an dem Namen Mark de Vincenz hängen. Er fürchtete sich davor, Julia zu fragen, aber er wusste, er musste es tun. Niemand hatte je angezweifelt, dass sie die Wahrheit sagte. Sie und Robert behaupteten, sie hätten den Namen Mark de Vincenz nie zuvor gehört.
    Er spürte, wie sie neben ihm schneller atmete, und er nahm sie in die Arme. Roch ihren Duft und vergrub sein Gesicht tief in ihren Haaren.
    »Ich hätte es nicht ertragen können, dich zu verlieren«, murmelte er. »Ich dachte, ich komme zu spät. Und...«
    »Was?«
    »Ich hätte ihn töten können. Einfach so.«
    »Du hast es aber nicht getan«, erwiderte sie ruhig. »Du hast das Gegenteil getan. Du hast mich gerettet. Nur darauf kommt es an.«
    Er schüttelte den Kopf. »Manchmal, Julia, fürchte ich mich vor mir selbst.«
    Sie standen eng beieinander und dennoch – noch lag etwas zwischen ihnen und trennte sie voneinander. Ein schmaler Grat zwischen Nicht-Wissen, Nicht-Verstehen und der Wahrheit.
    Ihre Stimme klang erstickt, als sie nun anfing zu sprechen. »Weißt du, Chris, er hatte recht«, flüsterte sie. »Mein Name ist Laura de Vincenz und Mark de Vincenz war mein Vater.«
    Chris hielt den Atem an. Er hatte es vermutet, ja, sicher hatte er es vermutet. Aber es aus ihrem Mund zu hören, war etwas anderes. Die Wahrheit.
    Sie klang schlimmer als jede Vermutung, als jeder vage Gedanke.
    Und sie ergab einen furchtbaren Sinn.
    Er war sich kaum bewusst, dass sein Herz zu rasen begann; er merkte es erst, als er so hastig atmete, dass sie fragte: »Was ist?«
    Ihre Augen waren im Licht der Sonne von so einem tiefen Grün, als spiegelten sich die Wipfel der hohen Bäume in ihnen.
    »Nichts.«
    Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihre Wange.
    »Versprichst du mir eins, Chris?«, fragte sie.
    Er schluckte und nickte. Er spürte, wie schwer es ihr fiel zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher