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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik
Autoren: Ayn Rand
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geradeaus. Aber er sah weder James Taggart noch sonst etwas im Büro.
    Nach einer kurzen Pause verbeugte er sich und ging hinaus.
    Im Vorzimmer löschten die Sekretäre James Taggarts das Licht und machten Feierabend. Nur Pop Harper, der Bürovorsteher, saß noch an seinem Schreibtisch und machte sich an den Hebeln einer halb zerlegten Schreibmaschine zu schaffen. Jeder im Unternehmen hatte den Eindruck, als wäre Pop Harper in genau jenem Winkel des Büros, an genau jenem Schreibtisch zur Welt gekommen und hätte nicht vor, ihn jemals zu verlassen. Schon zu Zeiten von James Taggarts Vater war er Bürovorsteher gewesen.
    Als Eddie Willers aus dem Büro des Präsidenten kam, blickte Pop Harper zu ihm auf. Es war ein weiser und bedächtiger Blick. Er schien zu sagen, dass er wisse, dass Eddies Besuch in diesem Teil des Gebäudes Ärger im Schienenverkehr bedeutete und dass sein Besuch zu nichts geführt hatte, dass ihm das aber völlig gleichgültig sei. Es war dieselbe zynische Teilnahmslosigkeit, die Eddie Willers in den Augen des Landstreichers an der Straßenecke gesehen hatte.
    „Sagen Sie mal, Eddie, haben Sie eine Ahnung, wo ich ein paar wollene Unterhemden bekomme?“, fragte er. „Ich habe die ganze Stadt danach abgesucht, aber niemand hat welche.“
    „Nein, keine Ahnung“, sagte Eddie und blieb stehen. „Weshalb fragen Sie ausgerechnet mich?“
    „Ich frage einfach jeden. Vielleicht kann es mir irgendjemand sagen.“
    Eddie war es unwohl beim Anblick des leeren, ausgemergelten Gesichts und des weißen Haars.
    „Es ist kalt hier drin“, sagte Pop Harper. „Und im Winter wird es noch kälter sein.“
    „Was machen Sie da eigentlich?“, fragte Eddie und zeigte auf die Einzelteile der Schreibmaschine.
    „Das verdammte Ding ist mal wieder kaputt. Es ist zwecklos, sie zur Reparatur zu schicken; letztes Mal haben sie drei Monate gebraucht, um sie wieder herzurichten. Da dachte ich, ich flicke sie lieber selber. Sie macht es sowieso nicht mehr lange, glaube ich.“ Er ließ seine Faust auf die Tastatur fallen. „Du bist schrottreif, Schätzchen. Deine Tage sind gezählt.“
    Eddie fuhr zusammen. Das war der Satz, nach dem er gesucht hatte: Deine Tage sind gezählt. Doch er hatte vergessen, in welchem Zusammenhang er versucht hatte, sich daran zu erinnern.
    „Es hat keinen Zweck, Eddie“, sagte Pop Harper.
    „Was hat keinen Zweck?“
    „Nichts. Alles.“
    „Was ist los, Pop?“
    „Ich werde keine neue Schreibmaschine anfordern. Die neuen sind aus Blech. Haben die alten erst einmal alle den Geist aufgegeben, wird das Zeitalter der Schreibmaschine zu Ende sein. Heute früh gab es einen Unfall in der U-Bahn. Die Bremsen haben versagt. Sie sollten nach Hause gehen, Eddie, das Radio einschalten und ein bisschen gute Tanzmusik hören. Vergessen Sie alles, mein Junge. Ihr Problem ist, dass Sie nie ein Steckenpferd hatten. Irgendjemand hat bei mir daheim schon wieder die Glühbirnen aus dem Treppenhaus gestohlen. Ich habe Schmerzen in der Brust. Ich konnte heute Morgen keine Hustentropfen bekommen, der Drugstore an unserer Ecke ist letzte Woche bankrottgegangen. Die Texas Western Railroad hat schon letzten Monat Bankrott gemacht. Gestern haben sie die Queensborough-Brücke vorläufig gesperrt, wegen Reparaturarbeiten. Was soll’s! Wer ist John Galt?“
    *
    Sie saß am Zugfenster, den Kopf nach hinten gelehnt, ein Bein zum freien gegenüberliegenden Sitz hin ausgestreckt. Der Fensterrahmen vibrierte aufgrund der Fahrtgeschwindigkeit. Hinter der Scheibe breitete sich leere Dunkelheit aus, und dann und wann peitschten Lichtpunkte über das Glas wie Leuchtstreifen.
    Der Glanz des Seidenstrumpfes betonte die Kontur ihres langen, ebenmäßigen Beins und des geschwungenen Ristes, bis hin zur Spitze ihres Fußes im hochhackigen Pumps. All das war von einer weiblichen Eleganz, die im staubigen Zugabteil fehl am Platz schien und auch mit ihrer übrigen Erscheinung nicht harmonierte. Der verschlissene Kamelhaarmantel, der einmal teuer gewesen sein mochte, war achtlos um ihren schlanken, sportlichen Körper geschlungen. Der Mantelkragen war hochgeschlagen und reichte bis zur Krempe ihres schräg aufgesetzten Hutes. Eine Strähne braunen Haars schaute darunter hervor und berührte beinahe ihre Schulter. Ihr Gesicht war kantig, ihr Mund scharf umrissen, ein sinnlicher Mund, den sie streng geschlossen hielt. Die Hände steckten in den Manteltaschen. Ihre Haltung war angespannt, als verabscheute sie jede Unbeweglichkeit,
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