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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik
Autoren: Ayn Rand
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und maskulin, als wäre sie sich ihres Körpers und seiner Weiblichkeit nicht bewusst.
    Sie lauschte der Musik. Es war eine Sinfonie des Triumphes. Die Klänge wallten auf, kündeten von Erhebung und waren selbst Erhebung. Sie waren das Wesen und die Form von Aufwärtsbewegung, sie schienen jede vom Wunsch nach Fortschritt bestimmte menschliche Handlung und jedweden ambitionierten Gedanken zu verkörpern. Es war eine Klangeruption, die aus dem Nichts hervorbrach und sich rückhaltlos ausbreitete. Sie stand für Freiheit und Erlösung, Kraft und Zielstrebigkeit. Sie wischte den Staub vom Dasein und ließ nichts zurück als die Freude ungehinderter Schaffenslust. Nur ein leiser Nachhall in den Klängen kündete von dem, dem die Musik entronnen war, aber heiter und erstaunt über die Entdeckung, dass weder Hässlichkeit noch Schmerz existierten und niemals hätten existieren müssen. Es war ein Hohelied auf eine gewaltige Erlösung.
    Sie dachte: Nur für einige Augenblicke, solange die Musik andauert, ist es in Ordnung, dich ihr ganz hinzugeben, alles andere zu vergessen und dich deinen Gefühlen zu überlassen. Lass los, dachte sie, lass dich gehen – das ist es!
    Irgendwo am Rande ihres Bewusstseins, jenseits der Musik, hörte sie das Geräusch der Zugräder. Sie ratterten in gleichmäßigem Rhythmus und betonten jeden vierten Schlag, wie zur Akzentuierung einer bewussten Absicht. Der Klang der Räder ließ sie entspannen. Sie hörte der Sinfonie zu und dachte: Deswegen müssen die Räder weiterrollen, und dahin rollen sie.
    Diese Sinfonie hatte sie noch nie gehört, doch sie wusste, dass sie von Richard Halley komponiert worden war. Sie erkannte die Heftigkeit und erhabene Intensität. Sie erkannte den Stil des musikalischen Themas; es war eine klare, komplexe Melodie – in einer Zeit, in der niemand mehr Melodien schrieb. … Ihre Augen waren auf die Decke des Waggons gerichtet, doch sie sah sie nicht; sie hatte vergessen, wo sie sich befand. Sie wusste nicht, ob sie ein ganzes Sinfonieorchester oder nur das Thema hörte; womöglich fand die Orchestrierung nur in ihrer Vorstellung statt.
    Beiläufig dachte sie, dass Vorboten dieses Themas in allen Werken Richard Halleys vorkamen, in den Stücken jener langen Jahre des Ringens bis zu dem Tag, an dem er in mittlerem Alter plötzlich zu Ruhm gelangte, der ihn aus der Bahn warf. Diese Sinfonie, dachte sie lauschend, war das Ziel seiner Mühsal. Sie rief sich die Passagen in seinen Werken in Erinnerung, die sie ankündigten, einzelne vorweggenommene Phrasen, Melodiensplitter, die zu etwas Größerem ansetzten, es aber nie erreichten. Als Richard Halley diese Sinfonie komponierte, war er … Sie richtete sich im Sitz auf. Wann hatte er sie komponiert?
    Im selben Augenblick wurde ihr wieder bewusst, wo sie war, und sie fragte sich zum ersten Mal, woher die Musik kam.
    Ein paar Schritte entfernt, am Ende des Waggons, stellte ein Bremser die Steuerung der Klimaanlage nach. Er war blond und jung. Er pfiff das Thema der Sinfonie vor sich hin. Sie begriff, dass er es schon seit geraumer Zeit pfiff und dass das alles war, was sie gehört hatte.
    Sie schaute ihm eine Zeit lang entgeistert zu, ehe sie ihn fragte: „Sagen Sie bitte, was pfeifen Sie da?“
    Der junge Mann drehte sich zu ihr um. Ihre Blicke trafen sich, und sie sah sein offenes, erwartungsvolles Lächeln, als tauschte er Vertraulichkeiten mit einem Freund aus. Sie mochte sein Gesicht – sein Profil war fest und gespannt, es hatte nicht jenen schlaffen, unbestimmten Ausdruck, der jeglicher Verantwortung für eine bestimmte Form auswich, wie sie ihn inzwischen von den Gesichtern ihrer Mitmenschen gewöhnt war.
    „Es ist das Halley-Konzert“, antwortete er lächelnd.
    „Welches?“
    „Das fünfte.“
    Nach einer kurzen Pause sagte sie langsam und sehr bedächtig: „Richard Halley hat nur vier Konzerte geschrieben.“
    Das Lächeln des jungen Mannes verschwand. Es war, als wäre er in die Wirklichkeit zurückgeworfen worden, genau wie sie vor einigen Augenblicken. Es war, als wäre ein Rollladen heruntergelassen worden, und zurück blieb ein ausdrucksloses Gesicht, unpersönlich, gleichgültig und leer.
    „Ja, natürlich“, sagte er. „Ich habe mich geirrt.“
    „Was war es dann?“
    „Eine Melodie, die ich irgendwo aufgeschnappt habe.“
    „Welche?“
    „Ich weiß es nicht.“
    „Wo haben Sie sie gehört?“
    „Ich kann mich nicht erinnern.“
    Sie verstummte, und er wandte sich teilnahmslos von ihr
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