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Der Streik

Der Streik

Titel: Der Streik
Autoren: Ayn Rand
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beschreiben oder erklären konnte. Die Abneigung schien sich mit seiner Unruhe zu decken; sie war von derselben Art.
    Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass es eine Redewendung, eine Art geflügeltes Wort gab, das ausdrückte, was der Kalender anzudeuten schien. Doch er kam nicht darauf. Er lief weiter und spürte dem Spruch nach, der ihm schemenhaft im Kopf herumging. Er konnte ihn weder fassen noch beiseiteschieben. Er drehte sich um. Das weiße Rechteck thronte über den Dächern und verkündete unerschütterlich: 2. September.
    Eddie Willers blickte hinunter auf die Straße und sah einen Handkarren voll Gemüse auf der Veranda eines Hauses aus rotbraunem Sandstein. Er sah einen Stapel goldgelber Möhren und das frische Grün von Zwiebeln. Er sah einen sauberen weißen Vorhang, der aus einem offenen Fenster wehte. Er sah einen Bus, der geschickt um eine Ecke gelenkt wurde. Er fragte sich, weshalb ihn das beruhigte, und dann, weshalb er unvermittelt wünschte, dass all diese Dinge nicht im Freien wären, dem leeren Raum über ihnen ausgesetzt.
    Als er die Fifth Avenue erreicht hatte, konzentrierte er sich auf die Schaufenster der Geschäfte, an denen er vorbeikam. Weder brauchte er etwas, noch wollte er etwas kaufen, doch er genoss den Anblick der ausgelegten Waren, gleich welcher Art; Dinge, die von Menschen hergestellt worden waren, damit Menschen sie benutzten. Der Anblick einer florierenden Geschäftsstraße bereitete ihm Vergnügen; kaum jedes vierte Schaufenster war wegen Geschäftsaufgabe dunkel und leer.
    Er wusste nicht, weshalb er plötzlich an die Eiche denken musste. Es gab nichts, was ihn daran erinnert hätte. Doch er dachte daran – und an die Sommer seiner Kindheit auf dem Anwesen der Taggart-Familie. Er hatte einen Großteil seiner Kindheit mit den Taggart-Kindern verbracht, und heute arbeitete er für sie, wie sein Vater und sein Großvater einst für deren Vater und Großvater gearbeitet hatten.
    Die große Eiche hatte auf einem Hügel oberhalb des Hudson Rivers gestanden, in einem abgelegenen Winkel des Taggart-Anwesens. Im Alter von sieben Jahren ging Eddie Willers gern dorthin, um sie anzuschauen. Seit Jahrhunderten hatte sie schon dort gestanden, und er war überzeugt, dass sie immer dort stehen würde. Ihre Wurzeln umklammerten den Hügel wie eine Faust, deren Finger sich in die Erde gruben, und er stellte sich vor, dass ein Riese, der sie am Wipfel packte, sie nicht entwurzeln, sondern den Hügel mitsamt der ganzen Erde wie einen Ball an einer Schnur in die Luft schleudern würde. Bei der Eiche fühlte er sich sicher. Nichts konnte ihr etwas anhaben. Sie war für ihn das stärkste Symbol für Kraft.
    Eines Nachts wurde die Eiche vom Blitz getroffen. Eddie sah sie am darauffolgenden Morgen. Sie lag entzweit am Boden, und er blickte in ihren Stamm wie in die Mündung eines schwarzen Tunnels. Der Stamm war nur noch eine leere Hülle, sein Kern war längst weggefault. Innen war er leer – bis auf einen feinen grauen Staub, der vom leisesten Lüftchen hierhin und dorthin geweht wurde. Die Lebenskraft war entwichen, und die übrig gebliebene Hülse konnte ohne sie nicht bestehen.
    Jahre später hörte er, dass Kinder vor seelischen Erschütterungen bewahrt werden müssten, vor der ersten Bekanntschaft mit Tod, Schmerz oder Angst. Doch davor hatte er sich nie gefürchtet. Erschüttert war er, als er regungslos dastand und in das schwarze Loch des Baumstamms blickte. Es war ein enormer Betrug – umso grausamer, weil er nicht begreifen konnte, worin er eigentlich bestand. Weder er selbst noch sein Vertrauen waren betrogen worden, sondern etwas anderes. Er stand eine Zeit lang lautlos da, dann ging er zurück ins Haus. Er hatte nie mit jemandem darüber gesprochen, weder damals noch seither.
    Eddie Willers schüttelte den Kopf, als das Kreischen einer rostigen Ampelschaltung ihn an einer Bordkante zum Halten zwang. Er ärgerte sich über sich selbst. Es gab keinen Grund, heute Abend an die Eiche zu denken. Sie bedeutete ihm nichts mehr, nur einen leisen Anflug von Traurigkeit – und einen Schmerz, der ihn kurz durchrieselte und dann verschwand wie ein Regentropfen, der sich wie ein Fragezeichen eine Fensterscheibe hinunterschlängelt.
    Er wollte nicht, dass sich Traurigkeit mit seiner Kindheit verknüpfte; er liebte die Erinnerung daran: Jeder Tag, an den er jetzt zurückdachte, schien ihm von ruhigem, hell glänzenden Sonnenlicht durchflutet gewesen zu sein. Es war ihm, als reichten einige jener
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