Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
Vom Netzwerk:
Weitere Firmenschilder gehörten zu Arztpraxen. Der Summer tönte und gab die Tür frei. Ich ging nach innen und folgte den Schildern. Seine Praxis war im Souterrain. Doch etwas nervös, ging ich die knarrende Holztreppe hinunter. Eine weiße Tür öffnete sich, und die Hand eines fast zwei Meter großen Hünen flog mir entgegen. „Hi, Tim, how are you?“
    Ich ließ mir die Hand drücken und murmelte ein eingeschüchtertes Hallo.
    „Wie heißen Sie?“, überfiel er mich mit seiner nächsten Frage.
    „Röder.“
    „Okay. Keinen Vornamen?“
    Als Antwort schüttelte ich meinen Kopf. Er runzelte die Stirn.
    „Kommen Sie.“ Er bot mir einen Platz an. Ein Stuhl ohne Lehne. Es sah ein wenig gefährlich aus. Da er meine Verunsicherung wohl gesehen hatte, lachte er.
    „Ein Rückenstuhl. Keine Lehne. Für aufrechte Sitzhaltung. Stärkung der Rückenmuskulatur. Probieren Sie es. Sie werden nicht runterfallen.“
    Vorsichtig setzte ich mich hin und schaute ihn an.
    „Was kann ich für Sie tun, junge Dame?“
    „Dr. Bring hat sie mir empfohlen. Ich soll … “
    Doch er unterbrach mich schon. „Otto, whow. Kristallklar und prickelnd wie ein Weizenbier. Wie geht es ihm?“
    Was sollte ich darauf sagen? Ich kannte ihn ja nicht.
    „Ich weiß nicht“, zuckte ich mit den Schultern.
    „Sie sind ein bisschen schüchtern, oder?“
    Mein Gott. Ich war definitiv falsch hier. Er mochte ja ein guter Lauftrainer sein, aber seine locker-flockige amerikanische Art und seine Basketballererscheinung machten mich noch kleiner, als ich mich sowieso schon fühlte.
    „Ich weiß nicht. Ich glaube, es war keine gute Idee, zu kommen.“ Ich stand auf und wollte gehen.
    „Na, na, na. Kommen Sie. Ich habe Sie ein wenig überfallen. Zu viel Tempo. Stimmt’s?“ Er stellte sich mir in den Weg. An ein Vorbeikommen war nicht zu denken.
    „Setzen Sie sich wieder, Frau Röder.“ Jetzt sprach er auch sehr viel langsamer und ruhiger. „Lassen Sie mich mal etwas vermuten, ja? Sie wollen laufen lernen. Warum?“
    Seine entwaffnende Offenheit verblüffte mich. Ich wollte ihm eine zweite Chance geben. „Es war nicht meine Idee. Dr. Bring meinte, das würde mir guttun. Außerdem will ich abnehmen.“
    „Abnehmen? Okay. Aber Sie sind doch schlank!“
    Skeptisch schaute ich ihn an. Was ich überhaupt nicht mochte, war, falsche Komplimente zu bekommen.
    Schon wieder lachte er. Vermutlich weil er meinen Blick merkwürdig fand. „Schauen Sie, hier in dem badischen Dorf gibt es richtig viele dicke Menschen. Einige Kurkliniken haben sich auf Fettleibigkeit spezialisiert. Da laufen Kurgäste herum, die sehen aus wie kleine Elefanten.“
    Okay. Das war ehrlich. „Ich habe in den letzten Jahren fast zwanzig Kilogramm zugenommen.“
    Okay. Und wie viel wollen Sie abnehmen?“
    „Achtzehn.“
    „Und nur deshalb wollen Sie laufen lernen?
    Interessante Frage. Ich wusste es nicht. Laufen. Wozu eigentlich? Weglaufen, signalisierte mir eine Stimme.
    Da ich nicht antwortete, fuhr er fort. „Also laufen, um abzunehmen. Noch ein anderes Ziel? Wie weit laufen? Wie lange laufen? Fünf oder zehn oder 42,195 oder 100 Kilometer?“
    42,195? Wieso eine so krumme Zahl? Ich zuckte die Schultern. „Mal sehen.“
    „Gut. Ihre Antwort gefällt mir. Ich werde Ihnen zeigen, wie Sie laufen, und zwar so, dass Sie Spaß haben werden. Sie können dann später immer noch entscheiden, ob Sie einen Marathon oder Ultramarathon oder den Zürichlauf machen wollen oder was auch immer.“
    Jetzt dämmerte es mir. Marathon, über 42 Kilometer.
    „Kommen Sie.“ Er nahm mich einfach bei der Hand und zog mich hoch. „Aber so geht das nicht.“ Kritisch schaute er meine Schuhe an. „Darin können Sie nicht laufen. Schuhgröße 36?“
    Bingo. Aber entsetzt wollte ich mich zur Wehr setzen. „Ich wollte doch nur mit Ihnen sprechen … “
    „Quatsch. Wir fangen an. Hier, nehmen Sie die. Die passen Ihnen.“
    Was sollte ich tun? Also zog ich meine Schuhe aus und schlüpfte in die Laufschuhe.
    „So. Der Rest ist schon in Ordnung. Jeans. Pullover. Und auf geht’s.“
    In einer fließenden Bewegung glitt er durch die Tür, und ich folgte ihm auf dem Fuß.
    „Wie groß sind Sie? Haben Sie mal Basketball gespielt?“
    Lachend antwortete er: „Nein. Ich war Läufer. Langlauf. 1,97 Meter.“
    Nach wenigen Metern, gerade über der Straße, waren wir im Kurpark.
    „Wieso sagen Sie immer badisches Dorf?“ Diese Bemerkung hatte mich zu der Frage gereizt.
    „Na ja, Bad Orb ist doch ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher