Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
Vom Netzwerk:
Nase. Ein kleines Aufputschmittel auf meinem Weg in die Freiheit.
    Vor dem Haus war kein Auto zu sehen, und Karl schien auch nicht in irgendeiner Ecke zu stehen. Dennoch hatte ich Angst zu klingeln. Ein Steinchen ans Fenster werfen? Wie blöd! Gab es keine andere Möglichkeit? Ich zitterte. Die Kälte fraß sich in jeden Winkel meines Körpers. Bewegen hatte Dr. Bring gesagt. Also nahm ich einen Stein und warf ihn ans Wohnzimmerfenster. Schnell duckte ich mich hinter einen Busch. Nichts passierte. Mist. Also ein zweiter Versuch. Wenn sie einen Fernsehfilm sah? Oder Musik hörte und das Geräusch nicht bemerkte? In diesem Moment erschien ihre Silhouette am Fenster. Ich lief nach vorne. „Lisa!“
    Sie sah mich und lief sofort weg. Ich bekam Angst. War Karl in der Wohnung? Hatte er sie in seiner Gewalt? Schon wollte ich weglaufen, aber da öffnete sich die Haustür.
    „Hey, was ist?“, hörte ich sie rufen. Ich stolperte auf wunden Füßen über die Straße und fiel ihr in die Arme. Sofort heulte ich los. Die Anspannung löste sich. Ich bekam nicht mehr mit, dass sie die Tür schloss, und lag in ihren Armen und schluchzte. Ein Nervenzusammenbruch.
    Lisa gab mir Zeit. Dann führte sie mich langsam nach oben zu ihrem Sofa. Im Hintergrund lief irgendein Film im Fernsehen. Wie durch einen Nebel nahm ich die Stimme von Liz Taylor wahr. Wer hat Angst vor Virginia Woolf. Ich wollte schreien, aber ich hatte keine Kraft mehr. Der Nebel wurde dichter, und ich verlor mich in ihm.
    Irgendwann später, die Morgensonne schien durch das Fenster und fand ihren Weg durch die hässliche Gardine, wurde ich wach. Der Duft von frischem Kaffee hatte mich wohl geweckt. Lisa war in der offenen Küche und trug einen violetten Kimono, den ich noch gar nicht kannte. Blaue und gelbe Streifen, silberne Tupfer. Schön! Woher hatte sie ihn?
    Ich richtete mich auf. „Lisa?“
    Obwohl ich fast nur flüstern konnte, hörte sie mich. Sie kam sofort und nahm mich still in den Arm. Ich zitterte. Die Bilder der letzten Nacht holten mich ein. Sie drückte mich fester an sich und löschte das Nachbeben aus.
    „Lisa, es war so schrecklich. Er wollte mich wieder vergewaltigen. Ich bin ihm davongelaufen.“
    Jetzt erstarrte sie. Ihr Körper wurde ganz steif. Sie kannte meine Geschichten und Karl zur Genüge. Sie bekam Angst. Ganz paradox wurde ich in diesem Moment mutiger. Ich musste sie trösten und ihr Mut zusprechen.
    „Es ist nicht schlimm, Lisa. Wenn er sich erst einmal beruhigt hat, macht er nichts mehr.“
    Lisa löste die Umarmung und schaute mich voller Skepsis an. Ihr Blick gefror zu Eis.

TIM
    Später fuhr mich Lisa mit ihrem Wagen nach Hause und stellte ihn vor der großen Garage ab, so dass ich vor neugierigen Blicken geschützt aussteigen konnte. Für den Fall der Fälle hatte ich in einem nur mir bekannten Versteck einen Schlüssel deponiert. Er war noch da. Ich winkte Lisa zu, und sie fuhr rückwärts aus der Einfahrt.
    Das Haus schien völlig verlassen zu sein. Vorsichtig ging ich von Raum zu Raum. Karl war nicht zu Hause. Alles war still. Ich war eine Fremde in meinem eigenen Heim.
    Meine einzige Freude: ein Bad nehmen. Das Wasser lief ein und machte aus dem zugefügten Schaumbad einen herrlich duftenden Schaumberg, in den ich mich genüsslich hineinsinken ließ. Ich kostete dieses wunderschöne Gefühl in aller Ruhe aus.
    Mein Leben war auf diesen winzigen Fleck reduziert. Die Badewanne. Meine Gedanken kamen zur Ruhe. Wie sollte ich vorgehen? Was hatte ich heute Abend zu erwarten, wenn er wieder nach Hause kam? Darauf musste ich vorbereitet sein. Ich nahm gedanklich allen Mut zusammen und formulierte: Du schlägst mich nicht mehr. Sonst laufe ich dir wieder weg. Und für immer. Ich formulierte diese drei Sätze wie Affirmationen, bis sie sich wie ein Mantra in all meinen Gehirnwindungen eingenistet hatten.
    Seufzend stand ich auf und kleidete mich an. Sportlich. Jeans, Bluse in Weiß, Pullover in Aubergine. Im Gesicht hatte ich einige rote Striemen, die ich mir bei meiner Flucht in den Wald zugezogen hatte. Ich übertünchte sie mit einem hautfarbenen Schminkpuder, so dass man sie fast nicht mehr sehen konnte. Die Beule an der Schläfe war zum Glück nicht so schmerzhaft, wie ich befürchtete hatte und war gut unter meinen langen Haaren zu verstecken. Ein letzter Blick in den Spiegel: einigermaßen passabel.
    Das Gespräch mit Lisa hatte mir gutgetan. Der leichte Schwung, den ich aus dem Termin mit Dr. Bring mitgenommen hatte und der
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher