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Der stille Schrei

Der stille Schrei

Titel: Der stille Schrei
Autoren: Leon Specht
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Flasche Bier, voller Stolz und doch auch mit Ekel vermischt berichtet. Ich konnte spüren, dass er alle Menschen nur als Schmeißfliegen betrachtete, die er lüstern mit seiner Froschzunge schnappte und vertilgte.
    Gedankenverloren drückte ich den elektrischen Garagentoröffner und war erleichtert. Sein Jaguar stand nicht in der geräumigen Garage, die Platz für vier Fahrzeuge bot. Der nur für seltene Zwecke eingesetzte Bentley stand majestätisch auf seinem Platz, ganz rechts. Für normale Termine war Karl immer mit dem Jaguar unterwegs, so auch heute Abend. Morgens der Erste, abends der Letzte. Noch beim Abendessen in der Jossastube oder in der Pizzeria Da Salva seinen Geschäften nachgehend. Fliegen schnappend. Wie ein gieriger Frosch. Mit einer meterlangen Zunge, die seine Opfer nicht rechtzeitig erkennen konnten. Und schon waren sie gefangen und wurden verschluckt.
    Ermüdet und erschöpft ging ich ins Schlafzimmer und ließ alles von mir fallen. Das Kostüm. Die Schuhe. Die seelischen Schmerzen. Ich fiel ins Bett und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
    Ein wirres Bild tauchte in meinem Kopf auf. Nein. Es musste ein Traum sein. War ich wach? Träumte ich? Oder träumte ich, dass ich träumte? Die Übelkeit war wieder da. Ein überaus übler Gestank. Ich versuchte ihn zu verscheuchen. Aber er war schwer und drückte auf meine Lunge, meinen Brustkorb. Mein Versuch, ihn wegzuschütteln, scheiterte, machte mich aber noch wacher. Dann realisierte ich, dass Karl auf mir lag. Der Gestank war sein Atem, ein Gemisch aus Bier, Schnaps und Zigarrenrauch. Er fingerte an mir rum und versuchte, sein Glied in meine Scheide einzuführen. Der Ekel übermannte mich. Ich bäumte mich auf und schaffte es irgendwie, mein Knie zwischen seine Beine zu stemmen. Es war eine Verzweiflungstat, und es war ein Reflex. Aber offensichtlich ein Volltreffer. Er jaulte auf.
    Panik ergriff mich. Wenn er mich heute erwischte, würde er mich totschlagen. Ich musste davonlaufen. Zeit, mich anzuziehen, gab es nicht. Also lief ich los. Halbnackt. Nur mit einem Seidennachthemd bekleidet. Barfuß. Blind vor Angst. Ich riss die Haustür auf und hastete atemlos ins Freie. Mein Instinkt riet mir, in Richtung Wald zu laufen. Die Sterne funkelten mich an und glitzerten böse. Karls Blick schien mich überallhin zu verfolgen. Es würde kalt werden heute Nacht. Egal. Immer nur weiter. Weg. Weg von ihm.
    Schon hörte ich ihn. Er kam hinterher. Die Haustür fiel ins Schloss. Er brüllte. Worte, die nicht zu verstehen waren. Das war auch nicht nötig. Der Sinn war klar. Ich hatte Todesangst.
    Weiter in den Wald hinein. Das Unterholz knackte. Ich spürte scharfe Steine, trockene Äste, Dornen. Und spürte doch nichts. Das Adrenalin erstickte jeden Schmerz angesichts meiner Angst, dass er mich erwischen könnte.
    Ich lief und stolperte und strauchelte. Meine Lunge brannte. Keuchend hastete ich vorwärts und wurde auf einmal niedergestreckt. Mein Fuß hatte sich in einer Pflanzenschlinge gefangen, und ich knallte auf den Boden. Weiches Laub dämpfte meinen Sturz, aber ein Stein bohrte sich in meine Schläfe und knipste das Licht aus.
    Als ich wieder zu mir kam, war alles friedlich still. Zuerst hörte ich ein leises Rascheln. Dann einige leise und einsame Vogelstimmen. Ein würziger Duft lag in meiner Nase. Ich versuchte mich zu bewegen. Die Schmerzen holten mich ein. Mühsam, stöhnend richtete ich mich auf und versuchte mich zu orientieren. Wo war ich? Was war passiert? Karl! Ich war ihm weggelaufen. Halbnackt, barfuß und frierend im Wald.
    Dann musste ich kichern. Es war grotesk. Ich hatte es geschafft! Ich war ihm tatsächlich weggelaufen! Der Preis: kalte Füße, ein schmutziges Seidennachthemd, einige blaue Flecke. Cool!
    Langsam kam ich zur Besinnung. Was nun? Nach Hause konnte ich nicht gehen. Lisa? Dort würde er zuerst suchen. Dennoch: Eine andere Alternative hatte ich nicht. Ich stand auf und merkte nun, dass ich überall Schmerzen verspürte. Dennoch gab es auch ein anderes Gefühl: Ich war ihm entkommen! Ich war in Bewegung gekommen. Laufen. Befreiung.
    Stolpernd und stockend suchte ich den Weg durch den Wald. Die Orientierung war klar. Immer bergab. Mein persönliches Bergauf und mein erster Triumph.
    Irgendwann lag der letzte Baum hinter mir, und ich hatte jede Menge neuer Kratzer und Blessuren. Aber ich fühlte mich frei. Ich ging die kleine Gasse hinter der Bäckerei zum Haus von Lisa, den Geruch von Hefe und anderen Backaromen in meiner
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