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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean
Autoren: Gerhard Roth
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Bunte Bilder von Zellen und Geweben waren in dem Buch – die 240fach vergrößerte Abbildung einer Vorderhornzelle aus dem Rückenmark eines Rindes mit Säurefuchsin gefärbt: Ein roter Polyp mit verschlungenen Armen in einer rotwolkigen Flüssigkeit, wie es Ascher jetzt schien, ein 60fach vergrößertes Pigmentepithel eines Pferdeauges, dessen sechseckige Zellenumrisse auch im ungefärbten Zustand honigfarben waren und aussahen wie Bienenwaben, glatte Muskelzellen einer Kaninchenblase mit Haemolysin-Chromotrop-Färbung, die in 38facher Vergrößerung Ascher wie der Zug von Fischembryos in einem scharlachroten Gewässer vorkamen, das Injektionspräparat einer Kaninchenleber, bei der zur Darstellung des gesamten Gefäßbettes die Vene mit einer blau gefärbten Gelatinelösung durchspült worden war, wodurch die Abbildung den Eindruck eines vielarmigen Gewässers, das durch ziegelrote Erde fließt und sich in einem von Inseln durchbrochenen Fluß trifft, erzeugte, mit Silberimprägnierung gefärbte Gallenkapillaren schienen als schwarze Zweigchen in einem Schwefelnebel aufzutauchen, mit Azan gefärbtes Plattenepithel der äußeren Haut eines menschlichen Nasenflügels glich auf eine wunderbare Weise den tektonischen Schichten eines Vulkans, der zuoberst rotglühend, dann rosa war und in der Tiefe in blaues Wasser überging, die ungefärbten Plattenepithele des Bauchfells einer Katze sahen jetzt in 240facher Vergrößerung wie trockene, lehmgelbe Erde einer von Heuschrecken heimgesuchten indischen Provinz aus, gesprungen wie die Glasur auf einem Tongefäß. Langsam blätterte Ascher weiter. Da war eine Nervenzelle aus dem Vorderhorn des Rückenmarks eines Hundes, 380fach vergrößert, ein blauroter Papierdrachen auf einem Wolkenhimmel, der sich losgerissen hatte und Papierfetzen verlor, ein Katzennerv, um das 150fache vergrößert, ohne Färbung, sah für ihn aus wie Gras in einem Blasen treibenden Sumpf, die 60fache Ausschnittsvergrößerung der Zungenschleimhaut kam ihm vor wie der Fruchtknoten einer orientalischen Pflanze, deren Blüten brennenden, Flammen glichen, die wiederum hellblaue Rauchwolken absonderten. Ihm fiel der schöngefärbte, tote Fasanenhahn ein, den er gestern gesehen hatte und der nun in einen Zusammenhang mit den Bildern trat. Der unvollständige Querschnitt durch eine menschliche Luftröhre glich einem violetten Regenbogen, seltsame, durchsichtige Körper von Wassertieren waren Zellen aus Nierenteilen, wie bunte geschliffene Schnitte durch Minerale erschienen ihm manche Bilder, andere wiederum wie von einem hellen Licht durchleuchtete Blätter oder Ausschnitte aus Landkarten, die 45fach vergrößerte Hirnrinde glich dem Rot von Sonneneruptionen, während die Kleinhirnrinde eine leuchtende Pflanze war, deren Kapillaren durchsichtig weiß waren, silberimprägnierte Dendriten glichen in 150facher Vergrößerung dem gelben Holz fossilierter Bambusrohre, dann waren da die roten und bleichen Nachtfalter des Rückenmarks, der Längsschnitt durch das Spinalganglion eines Hundes, der dem Kopf einer im trüben Wasser schwimmenden Wildente glich, die Ohrentrompete schien ein Ausschnitt aus dem Mosaik einer arabischen Moschee zu sein, Augenzellen waren bunte Gärten, der Nerv eine gelbrote Blüte aus fleischigen Membranen. Ascher spürte dieselbe Neugierde wie vor fünfundzwanzig Jahren bei seinem Studium, nur waren die Bilder beim Betrachten anders geworden. Damals waren sie für ihn fremd und faszinierend gewesen, nun schien ihm alles ineinander überzugehen, die Schöpfung verwandelte sich in eine unendliche, zusammenhängende Kette von Bildern. Diese kleinen Zellen und Zellformationen waren Wälder, Seen, Pflanzen, Gebirge und Wolken, sie waren Steine und Muscheln, Insekten, Krebse und Fische, Vögel und Blüten. Er packte das Mikroskop aus, nahm eine Nadel, stach sich in einen Fingerballen und verwischte den Blutstropfen auf einem Glasplättchen, das er zusammen mit anderen in einer blechernen Bleistiftdose fand. Da waren Präpariernadeln, gläserne Löffel zum Verstreichen von Flüssigkeiten, das Rasiermesser seines Vaters, mit dem er Schnitte anfertigte, Hohlschliffobjektträger, ein Fläschchen mit Kalilauge zum Skelettieren von Insekten, Glyceringelatine, Objekte in einem Lederetui, Haarpinsel, Pipetten, Rasierklingen, Deck- und Uhrgläser und verschiedene Farblösungen. Er betrachtete kurz seinen Blutstropfen durch das Oku lar. Dann zog er den Stecker für das Mikroskop heraus. In dem gelben
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