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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean
Autoren: Gerhard Roth
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reichten ihnen bis zu den Knien, und sie mußten die Füße bei jedem Schritt so hoch heben, daß es aussah, als bewegte sich eine militärische Formation; nur unordentlicher, dachte Ascher. Am Ufer der Saggau standen hohe, blattlose Arnika-Stengel, zwischen denen Spinnen ihre Netze gewebt hatten. Nachdem sie mit den Autos wieder ein Stück gefahren waren, hielten sie vor einem Sägewerk. Es war Sonntag, und keiner von den Arbeitern war zu sehen. Sie gingen auf der schwarzen, aufgewühlten Erde, links und rechts waren hohe Bretterstapel aufgeschichtet. Die Saggau rauschte über ein Wehr. In einem Schuppen stand ein alter, rostiger Traktor vor der eisernen Sägemaschine. Der Weg führte ein Stück bergauf zwischen Obstbäumen und Bienenkästen am Rand eines herbstlichen Laubwaldes entlang. Ascher tat es wohl, den Jägern blindlings zu folgen. Auf dem Hügel verschwanden die Hunde wieder in einem Maisfeld. Gleich darauf hörte er einen Schuß, und ein Jäger kam mit der Beute um eine Ecke des Feldes. Ascher ging ihm neugierig entgegen. Der Fasanenhahn war um die Augen rot gefärbt, sein Schädeldach war grünblau, die Halskrause weiß, schwarz und violettblau geschuppt, der Kragen leuchtete goldbraun mit dunkelgrünen Spitzen, die Flügel, die der Jäger jetzt für ihn auseinanderspreizte, waren hellbraun und seidengelb, die Flügelspitzen braun, grau und weiß getupft. Der Jäger hielt ihm ruhig den toten Fasanenhahn hin. Es war, als sei dieser plötzlich zahm und schläfrig geworden, weiter nichts. Ascher berührte ihn, woraufhin der Jäger einige Federn aus dem Körper zupfte und ihm in die Hand drückte. Ascher zögerte, der Jäger hatte sein Zögern wohl mißverstanden und vermutet, daß Ascher sich davor scheute, das Geschenk anzunehmen. »Es ist nichts Besonderes«, sagte er wie zur Beruhigung.
    Die anderen waren inzwischen weitergegangen. Der Nebel lichtete sich, die Sonne schien, und der Kirchturm von Oberhaag tauchte auf. An der Sammelstelle öffnete der Jagdleiter eine Zwei-Liter-Weinflasche und reichte sie herum. Dann fuhren sie durch ein paar Dörfer zum nächsten Maisacker. Einige Musikanten blieben mit ihren Instrumenten am Straßenrand stehen, schauten in die vorbeifahrenden Autos, als suchten sie nach Bekannten und blickten ihnen nach, bis sie außer Sichtweite waren. In einem der Dörfer mußten sie anhalten, da sich vor ihnen eine Erntedankprozession zur Kirche bewegte. Die Musik spielte an der Spitze des Zuges das Kirchenlied »Heilig ist der Herr«. Ascher lächelte. »Heilig ist nur er«, spielte die Kapelle weiter. Im Grunde beneidete er die Menschen um ihren Glauben. »Ich habe nur meine Selbstbeobachtung«, dachte er weiter, »die Zerstörung.« Dadurch kam er sich auch den anderen gegenüber vor wie einer, der sie in einem fort verraten wollte und zur Täuschung eine andere Miene aufsetzt. Was ihn sich schuldig fühlen ließ, war ihr Vertrauen. »Schließlich bin ich angelangt, wo ich immer anlange, wenn ich mich beobachte: bei der Untätigkeit.«
    »Er, der immer war«, hörte er jetzt die Menschen zur Musik singen, es klang wie ein Sprechen. Die Musik hatte so laut gespielt, daß er anfangs den Gesang der Prozessionsteilnehmer nicht wahrgenommen hatte. Ihm fielen die Jahre ohne ein Bedürfnis nach Religion ein und die späteren heimlichen Versuche, den Glauben zu finden, die kläglich scheiterten, denn in dem Augenblick, wo er sich zu ihm bekennen wollte, löste er sich in nichts auf. »Sein wird immerdar«, sangen die Prozessionsteilnehmer zu Ende. Als Ascher an den Häusern und Bäumen nun wieder die politischen Plakate wahrnahm und die Menschen in der Prozession an den riesigen Gesichtern vorbeigehen sah, dachte er, daß, wenn er ein Opfer und gleichzeitig unschuldig wäre, ihm alles schön erscheinen würde. Außerdem würde er wehrlos sein und das Wissen haben müssen, ausgeliefert zu sein. Das aber hatte er nicht.
    »Die gehen wie im Schlaf«, sagte Hofmeister unruhig. »Ja«, bestätigte Zeiner. Er überholte jetzt die Prozession, die von der Straße zur Kirche hin abgebogen war. Ascher warf einen flüchtigen Blick auf die Prozessionsfahne und den von vier Männern an Stäben getragenen Seiden- und Brokathimmel, unter dem der Pfarrer mit der Monstranz schritt.
    »Haben Sie die Frau gesehen?« fragte Hofmeister und zeigte mit dem Finger hinaus. »Vor zweiundzwanzig Jahren war sie meine Freundin. Das ist das Haus, in dem sie gewohnt hat.« Ascher blickte aus dem Fenster. »Dort
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