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Der stille Ozean

Der stille Ozean

Titel: Der stille Ozean
Autoren: Gerhard Roth
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Holzkästchen, das viele Jahre unbenutzt und vergessen in einer Lade seines Schreibtisches gelegen war, fand er sein Sezierbesteck; auch die Lehrbücher, in denen er lesen wollte, packte er aus. Er stellte sie jedoch zunächst unter die Vitrine der Küchenkredenz. Am Vorabend hatte er seine Frau und sein Kind vom Kaufhaus aus angerufen, das eine viertel Fußstunde entfernt an der Straße lag. (Das Kaufhaus war ein großer, nackter Raum, in dem auf Eisenregalen Lebensmittel und Schulhefte, Tabak- und Zuckerwaren, Taschenlampen, Messer, Plastikkübel und Besen und anderes mehr zum Verkauf aufgeschichtet lagen. ) In einem Nebenzimmer mit zwei großen Tischen und einer an der Wand rund um das Zimmer laufenden Sitzbank waren Männer gesessen und hatten getrunken. Sie hatten kurz aufgeschaut, als Ascher durch den Raum gegangen war, um zu telefonieren. Es hatte ihm wohlgetan, die Stimmen seines Kindes und seiner Frau zu hören.
    Einen Teil der Gegenstände stopfte er wieder in die Kiste, die er auf den Dachboden schleppte. Er stellte das Mikroskop vor dem Fenster auf und legte das Zubehör in die Kommode. Im Kaufhaus hatte er ein Paar Gummistiefel gekauft, die er in das Vorhaus trug und mit verschiedenen Gegenständen wie Tablettenfläschchen, Behältern mit Merfen Orange und Wasserstoffsuperoxyd, Plastikinjektionen und Injektionsnadeln sowie Schachteln mit gläsernen Ampullen in den Kasten verstaute. Da es im Haus kein fließendes Wasser gab, ging er ins Freie und wusch sich am Eisenbrunnen die Hände, wobei seine Schuhe naß wurden. Dann ging er zurück und setzte sich in die Küche.
    Gegen Mittag kam Golobitsch mit seinem Motorrad, das er vor dem Schweinestall abstellte. Er rechte sorgfältig die Äpfel von der Straße in die Wiese. Ascher sah ihm mit dem Feldstecher zu. Er konnte feststellen, daß Golobitsch mit sich sprach. Auf dem Gepäckträger des Motorrads vermutete Ascher in einem Sack das Gewehr. Nachdem Golobitsch mit dem Rechen fertig war, kam er mit dem Sack in das Haus. Es war ein Flobertgewehr, zu dem er ihm eine Schachtel mit Patronen gab. Er bot ihm auch eine Waltherpistole an. Ascher wollte die Waffen zuerst ausprobieren, aber Golobitsch meinte, sie würden beim Nachbarn Turracher Aufsehen erregen.
    Seit er Zeiner wegen einer Waffe angesprochen hatte, war er im Zweifel gewesen, ob es richtig war, was er tat. Tatsächlich aber hatte er ein Gefühl der Sicherheit empfunden, als Golobitsch die Waffen und Patronen auf die Küchenbank gelegt hatte. »Das Gewehr schießt genau«, hatte Golobitsch fortgesetzt. »Die Kimme darf nur ein winziges Stück über das Korn ragen … auf hundert Schritte können Sie damit einen Menschen töten. Es ist nur ein Beispiel«, fügte er hinzu. Er war eifrig damit beschäftigt, mit Ascher ein Geschäft abzuschließen. »Soll ich das Gewehr in den Graben mitnehmen?« fragte er. »Sie können dann im Graben das Gewehr und die Pistole ausprobieren, und wenn Sie zufrieden sind, können Sie mir sagen, was sie Ihnen wert sind.« Ascher war einverstanden.
    »Ziehen Sie sich die Gummistiefel an«, fuhr er fort. »Ich muß meinen Fischteich auslassen, der Boden ist dort sumpfig.« Seine Fürsorglichkeit rührte Ascher. Er gehorchte und steckte seine Füße in die verschnürbaren grünen Stiefel. Er war jetzt froh, nicht mehr allein zu sein. Golobitsch sah ihm zu, wie er die Stiefel verschnürte. »Hinter dem Kaufhaus wohnt eine Witwe mit ihren Söhnen und ihrer Stiefschwester. Wenn Sie wollen, können Sie dort essen«, sagte er dann.
    Er packte das Gewehr und die Pistole ein, und Ascher dachte, daß es völlig grundlos Momente gab, in denen man genau wußte, daß man sich an das soeben Erlebte später werde erinnern können. Er stand noch im Vorraum, und Golobitsch trat als Schatten durch die Tür ins Freie, den Sack mit dem Gewehr in der Hand. So war er selbst aus dem Gerichtsgebäude getreten, nachdem die Verhandlung zu Ende gegangen war. Seine Mutter war aus dem Zuschauerraum gekommen und hatte ihn gefragt, was nun weiter geschehen würde, und Ascher hatte plötzlich Mitleid gefühlt. Sie hatte Schuhe mit flachen Absätzen getragen, als wollte sie vor Scham unter den anderen Menschen verschwinden. Vor dem Ausgang hatte sie eine entfernte Verwandte getroffen und sich von ihr verabschiedet. Ascher hatte gesagt, er habe es eilig. Es war ein lichter Tag gewesen … Und jetzt empfand er wieder dasselbe Gefühl wie nach der Gerichtsverhandlung. Er sah die sonnige Landschaft, die ihn umgab.
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