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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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und spürte, wie die Maschine auf der Rollbahn aufsetzte. Es waren nicht der Kontakt der Reifen mit dem Asphalt, es waren ihre eigenen Träume, die sich jetzt an der Wirklichkeit rieben.
     

 
     
KAPITEL 5
     
    Neben vielen guten Vorsätzen, die sie gefasst hatte, war Diane auch fest entschlossen, vom ersten Tag an ihre Arbeitszeit einzuhalten. Sie wollte Lucien so rasch wie möglich an den Alltag gewöhnen. Zu der Zeit war sie mit der Niederschrift eines Berichts über »die zirkadianen Rhythmen der Großräuber im Nationalpark Hwange in Zimbabwe« beschäftigt, der dringend fertig werden musste, damit sie beim WWF International, der sich bereits an der Finanzierung ihrer Expedition nach Südafrika beteiligt hatte, neue Mittel beantragen konnte. Aus diesem Grund begab sie sich allmorgendlich ins Institut für Verhaltensforschung an der Universität, wo man ihr ein kleines Zimmer in der Nähe der Bibliothek zugewiesen hatte, damit sie ihre wissenschaftlichen Quellen leicht überprüfen konnte.
    Zur Betreuung ihres Sohnes hatte Diane eine junge Thailänderin engagiert, die an der Sorbonne studierte, tadellos französisch sprach und für den sanften und zärtlichen Umgang mit einem Kind wie geschaffen schien. In der ersten Woche hielt sich Diane an ihren Entschluss. Um neun Uhr morgens ging sie aus dem Haus und kam um sechs Uhr abends zurück. Doch bereits am folgenden Montag geriet ihre Disziplin ins Wanken: Sie machte sich jeden Morgen später auf den Weg und kam abends immer früher nach Hause. Ihren Vorsätzen zum Trotz zog sie ihre Anwesenheit zu Hause von Tag zu Tag in die Länge – als wäre sie frisch verliebt und könnte von den schönen Stunden nie genug bekommen.
    Es war die reine Seligkeit.
    Die Angst vor ihrer neuen Aufgabe als Adoptivmutter schwand in dem Maß, wie das Lächeln des Jungen strahlender wurde und seine kindliche Lebhaftigkeit über seine anfängliche Furcht die Oberhand gewann. Mit ausdrucksvollen Gesten, Grimassen, Gelächter gelang es ihm, sich verständlich zu machen, und er schien mühelos in seine neue Haut als Stadtbewohner zu schlüpfen. Diane stimmte ihm zu, antwortete ihm auf Französisch und versuchte ihr Staunen zu verbergen, so gut es ging.
    So oft hatte sie sich diesen kleinen Jungen vorgestellt, dass sie sich letztlich ein Traumbild geschaffen hatte. Aber jetzt war das Kind leibhaftig da, und alles war anders. Es war ein realer Junge, mit einem realen Gesicht, einem realen Temperament. In seiner Anwesenheit zerplatzten alle ihre Vermutungen wie Seifenblasen. Lucien hatte sich mühelos aus der imaginären Gussform, die sie ihm geknetet hatte, befreit und bot ihr stattdessen die ganze Vielschichtigkeit, die ganze Lebendigkeit seines Wesens, unerwartet, überraschend und immer vollkommen richtig – weil vollkommen wahr.
    Besonders bezaubernd war die Stunde des abendlichen Bads. Diane wurde nicht müde, diesen schmalen Körper zu betrachten, den weißen Rücken, dieses Knochengerüst, das ihr so zart erschien, als bestünde es aus lauter Vogelknöchelchen, aber bebend vor Energie. Sie bewunderte diese milchweiße Haut, die an Vollkommenheit grenzte, so verschieden von der Haut der anderen Kinder aus dem Waisenhaus, unter der bläuliche Adern pulsierten und feine Organe zu erkennen waren. Sie dachte an ein Küken, dessen lebenstrotzende Gestalt soeben aus seiner dünnen Schale geschlüpft ist.
    Ein weiterer Augenblick reiner Kontemplation war das Zu-Bett-Gehen, wenn Diane im Halbdunkel des Kinderzimmers eine Geschichte erzählte. Lucien brauchte nie sehr lang, um einzuschlafen, und dann war sie an der Reihe, sich von den zarten Empfindungen, die sie unter den Fingerkuppen spürte, einlullen zu lassen. Diese durchdringende Wärme der Haut. Dieses kaum merkliche Auf und Nieder der atmenden Brust. Und diese Haare, die so fein waren, dass sie eine besondere Aufmerksamkeit von den Fingern zu verlangen schienen – ein verborgenes Talent des Berührens. Woher hatte er solche Haare, aus welchem genetischen Dickicht? Er war so ganz anders: Das war das Gefühl, das immer wiederkehrte, wenn sie ihn in der Dunkelheit betrachtete. Anders. Jedes Merkmal, jedes Detail dieses kleinen Körpers erinnerten sie an den fernen Ursprung des Kindes und brachten es ihr doch nahe, vereinten es mit ihr in ihrer Pariser Einsamkeit.
    Luciens Persönlichkeit erhob sich wie ein gläsernes Bauwerk, das im Lauf der Tage sein inneres Gerüst, seine Windungen, seine Höhen preisgab. Sie hatte sich immer
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