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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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zeitgenössische Gemälde mit gewagten Farben und abstrakten Formen an strahlend weißen Wänden und in den Winkeln hinter niedrigen Tischen diskrete Lämpchen, die mit ihrem gedämpften Licht wie Wächter des puren Luxus wirkten.
    In einem hellen Zimmer voller Seide und Tüll hatte Sybille ein Bett aus bemaltem Holz hergerichtet, und Diane beschlich auf einmal der Verdacht, dass ihre Mutter anscheinend Gefallen an der Großmutterrolle gefunden hatte. Doch sie wollte an diesem Abend die Waffen ruhen lassen. Sie beglückwünschte sie zu der gelungenen Ausstattung und legte Lucien behutsam ins Bett. Für einen kurzen Moment standen die beiden Frauen einträchtig vor ihm und betrachteten ihn.
    Als sie das Zimmer verließen, verfiel Sybille sofort in ihr übliches Geplapper: Gesellschaftsklatsch und Anweisungen bezüglich des Abendessens. Diane hörte nicht zu. Auf der Schwelle des Salons drehte die kleine Frau sich um und musterte die Kleider ihrer Tochter. Ihre Miene drückte Bestürzung aus.
    »Was?«, fragte Diane.
    Sie trug einen sehr kurzen Pullover, eine extrem weite Leinenhose, die sich nur durch Reibung auf ihren Hüften hielt, und eine Jacke aus schwarzen Kunstfedern.
    »Was?«, wiederholte sie. »Was ist denn?«
    »Nichts. Ich sagte soeben, dass ich dich einem Minister gegenüber gesetzt habe. Einem amtierenden.«
    Diane zuckte die Achseln. »Ich pfeife auf die Politik.«
    Sybille pflichtete mit einem Lächeln bei, während sie die Tür zum Salon öffnete. »Sei provokant, witzig, dumm, was du willst. Aber mach bitte keinen Skandal.«
    Die Gäste saßen in ziegelroten Sesseln und nippten an einem Aperitif von derselben Farbe. Die Männer waren grauhaarig, alt, laut. Ihre verhuschten Gattinnen trugen einen stummen Konkurrenzkampf aus, indem sie einander und ihre Altersunterschiede einschätzten – Wassergräben voller Krokodile. Diane seufzte: Der Abend versprach tödlich zu werden.
    Jedoch traf sie auch die eher komischen kleinen Schrullen ihrer Mutter wieder an, so die Musik von Led Zeppelin, die gedämpft irgendwo im Hintergrund lief – seit ihrer wilden Jugend hörte Sybille ausschließlich Hardrock und Free Jazz – und das seltsame Glasfaserbesteck, mit dem der Tisch gedeckt war: Ihre Mutter war allergisch gegen Metall. Und was das Essen betraf, so war sie sicher, dass es im Wesentlichen aus einem süßsauren Gericht bestehen würde, denn ihre Mutter pflegte sämtliche Speisen mit Honig zu würzen.
    »Mein Kleines! Komm mich begrüßen!«
    Mit einem Lächeln trat Diane auf ihren Stiefvater zu, der ihr beide Hände entgegenstreckte. Klein und untersetzt, erinnerte Charles Helikian an einen Perserkönig. Er war von dunkler Hautfarbe und trug einen Kinnbart, seine abstehenden krausen Haare ballten sich wie Gewitterwolken um seinen Schädel und standen in merkwürdigem Einklang mit seinen dunklen Augen. »Mein Kleines«: Der Mann bestand auf dieser Anrede. Warum »Kleines«, wenn Diane alles andere als klein und darüber hinaus dreißig Jahre alt war? Und warum »mein«, nachdem Charles sie kennengelernt hatte, als sie bereits ein junges Mädchen von vierzehn Jahren gewesen war? Ein Rätsel. Sie hatte allerdings schon lange aufgegeben, sich mit diesen sprachlichen Koketterien zu befassen, und winkte ihm mit einer freundschaftlichen Geste zu, ohne sich zu ihm hinunterzubeugen. Charles protestierte nicht: Er wusste, dass seine Stieftochter jeglichem Gefühlsüberschwang abgeneigt war.
    Man ging zu Tisch. Wie immer beherrschte Charles mit seiner Eloquenz die Unterhaltung. Diane hatte diesen vorläufig letzten Gefährten ihrer Mutter, der rasch ihr offizieller Stiefvater geworden war, von Anfang an akzeptiert. In seinem Berufsleben war der Mann eine herausragende Erscheinung. Er war als Betriebspsychologe tätig gewesen und hatte sich dann auf sehr viel diskretere beraterische Aktivitäten bei Wirtschaftsbossen und Spitzenpolitikern verlegt. Welcher Art seine Ratschläge und sonstigen Unternehmungen waren, hatte Diane nie begriffen. Sie wusste nicht, ob Charles sich etwa mit einer Stilberatung seiner Kunden begnügte oder ob er im Gegenteil an ihrer Stelle das Unternehmen leitete, was ebenso gut möglich war.
    Im Grunde waren ihr sein Beruf und sein Erfolg ohnehin gleichgültig. Sie bewunderte Charles wegen seiner menschlichen Qualitäten, seiner Großzügigkeit, seiner humanistischen Überzeugungen. Als ehemaliger Linksaktivist setzte er sich über die Widersprüche hinsichtlich seines Vermögens und seiner

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