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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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gesellschaftlichen Stellung mühelos hinweg. Er lebte in dieser luxuriösen Wohnung, führte aber nach wie vor altruistische Reden, in denen er für die Macht des Volkes und soziale Gerechtigkeit eintrat. Er schreckte nicht davor zurück, nach wie vor die klassenlose Gesellschaft oder die Diktatur des Proletariats zu verherrlichen, die doch die meisten Völkermorde und Repressionen des zwanzigsten Jahrhunderts nach sich gezogen hatten. In seinem Mund gewannen diese geächteten Begriffe ihre einstige Faszinationskraft zurück – zweifellos deshalb, weil sich der Mann im Grunde seines Herzens einen Glauben, eine Aufrichtigkeit, eine Jugend bewahrt hatte, die noch immer intakt waren.
    Diane empfand eine geheime Sehnsucht nach solchen Idealen, die sie selbst nie gekannt, die aber die Generation ihrer Mutter in Begeisterung versetzt hatten. Sie war wie jemand, der nie eine Zigarette angerührt hat, aber den aromatischen Duft von Tabakrauch schätzt. Massakern, Unterdrückung und Ungerechtigkeiten zum Trotz hatte sie sich nie von einer eigenartigen Faszination für die revolutionäre Utopie befreien können. Und wenn Charles den Kommunismus mit der Inquisition verglich, wenn er erklärte, die Menschen hätten sich der schönsten aller Hoffnungen bemächtigt und sie in einen Kult des Grauens verwandelt, dann lauschte sie ihm mit großen Augen, wie das ernsthafte kleine Mädchen, das sie einst gewesen war.
    An diesem Abend drehte sich das Gespräch um die unendlichen, glorreichen, immensen Perspektiven der neuen Kommunikationsformen und insbesondere des Internet. Charles war nicht damit einverstanden: Hinter dem technischen Flitterwerk, sagte er, lauere eine neue Art der Entfremdung, die nur zu noch größerem Konsumverhalten und weiterem Verlust an Realitätsbewusstsein und menschlichen Werten beitragen werde.
    Die Tischgenossen stimmten ihm bereitwillig zu. Diane musterte sie: Diesen Unternehmern und Politikern war das Internet und seine potenzielle Macht der Entfremdung zweifellos gleichgültig, nicht anders als Charles. Sie waren um des Vergnügens willen hier – sie wollten sich ungewöhnliche, mit Feuereifer vorgetragene Ansichten anhören, wollten sich von diesem Zigarrenraucher einwickeln lassen, der sie an ihre Jugend erinnerte und an den Zorn, den sie sich und ihrer Umgebung selbst hin und wieder vorspielten, aber längst nicht mehr empfanden.
    Der Minister ihr gegenüber sprach sie unvermutet an: »Ihre Mutter sagte, Sie seien Ethologin?«
    Der Mann hatte ein schiefes Lächeln, eine Adlernase und flinke Augen, die an japanische Algen erinnerten.
    »Das ist richtig.«
    Der Politiker lächelte in die Runde, als wollte er um Nachsicht bitten.
    »Ich muss gestehen, dass ich nicht weiß, was das ist«, sagte er.
    Diane senkte den Blick und spürte, wie sie rot wurde. Ihr Arm war schräg gegen die Tischkante angewinkelt. In gleichmütigem Tonfall erklärte sie: »Ethologie ist die Wissenschaft vom Verhalten der Tiere.«
    »Und welche Tiere studieren Sie?«
    »Wilde. Reptilien, Raubvögel, Raubkatzen. Eigentlich alle Raubtiere.«
    »Das ist aber kein sehr … weibliches Gebiet.«
    Sie schaute auf. Sämtliche Blicke waren auf sie gerichtet.
    »Das kommt darauf an. Bei den Löwen jagen zum Beispiel nur die Weibchen. Das Männchen bleibt bei den Jungen zurück, um sie vor Angriffen von anderen Rudeln zu beschützen. Die Löwin ist zweifellos das mörderischste Geschöpf der Savanne.«
    »Das klingt ja schauerlich …«
    Diane nahm einen Schluck Champagner. »Im Gegenteil«, sagte sie. »Das ist einfach eine Seite des Lebens.«
    Der Minister stieß ein kehliges Lachen aus. »Das unausrottbare Klischee vom Leben, das sich vom Tod nährt …«
    »Ein Klischee wie jedes andere: Es wartet nur auf eine Gelegenheit, sich zu bestätigen.«
    Nach ihren Worten trat ein unangenehmes Schweigen ein. Sybille ließ ein hektisches Lachen hören: »Das soll Sie aber nicht daran hindern, mein Dessert zu kosten!«
    Diane warf ihr einen spöttischen Blick zu und bemerkte ein nervöses Zucken im Gesicht ihrer Mutter, während sie Teller und kleine Löffel verteilte. Doch der Politiker hob die Hand: »Eines möchte ich aber doch noch wissen.«
    Die Tischrunde erstarrte augenblicklich, und Diane begriff, dass der Mann während des gesamten Essens für die anderen nie aufgehört hatte, ein Minister zu sein. Er sah sie an und fragte: »Warum tragen Sie denn diesen Ring in der Nase?«
    Diane breitete die Hände aus; in ihren Ringen aus getriebenem

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