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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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zunächst verlockend. Doch sie las weiter: Nach erfolgter Befruchtung werden ein oder mehrere Embryonen durch die Vagina in die Gebärmutter implantiert. Diane stockte und begriff, wie blind sie schon wieder gewesen war. Was hatte sie sich denn vorgestellt: dass sich auch die Schwangerschaft in der Retorte abspielen würde, gut geschützt hinter Milchglas? Dass sie zusehen könnte, wie der Embryo nach und nach heranwuchs, als vergeistigte Mutation?
    Ihre hartnäckige Phobie errichtete eine Wand, eine unüberwindliche Mauer zwischen ihr und jedem Kinderwunsch. Ihr Körper, ihre Gebärmutter würden sich für immer gegen ihre natürliche Funktion, die wunderbare Entwicklung eines Kindes wehren. Diane versank in einer tiefen Depression. Eine Zeit lang verbrachte sie in einem Sanatorium, danach zog sie sich in die Villa zurück, die Charles Helikian, der Ehemann ihrer Mutter, am Mont Ventoux im Luberon besaß.
    Dort, unter glutheißer Sonne und beim Zirpen der Grillen, fasste sie einen neuen Entschluss. Wenn ihr jeder biologische Versuch verwehrt war, wollte sie es auf anderem Weg versuchen: Adoption. Dieser Ausweg erschien Diane als der bei weitem bessere, denn er war eine echte moralische Verantwortung und nicht der zweitklassige Versuch, die Natur nachzuahmen. In ihrer Lage war diese Entscheidung die einzig vernünftige und die ehrlichste. Gegenüber sich selbst ebenso wie dem Kind gegenüber, das ihr Leben teilen würde.
    Im Herbst 1997 unternahm sie die ersten Schritte. Zuerst versuchte man sie mit allen Mitteln von ihrem Vorhaben abzubringen. Auf dem Papier hatten auch Unverheiratete das Recht zur Adoption. In der Praxis jedoch war es sehr schwierig, in ihrer Situation, die auf eine homosexuelle Orientierung hindeuten könnte, die Genehmigung des Jugendamts und der Adoptionsvermittlungsstelle zu bekommen. Diane ließ sich jedoch nicht entmutigen, sondern stellte ihr Dossier für einen Genehmigungsantrag zusammen. Es folgten monatelange Gespräche, Nachforschungen, Prüfungen – das Verfahren drehte sich im Kreis und führte nie zu irgendeinem Ergebnis.
    Fast eineinhalb Jahre nach ihrer ersten Anfrage war sie noch immer keinen Schritt weitergekommen. Ihr Stiefvater bot ihr an, sich für sie zu verwenden. Er könne, meinte er, ihren Antrag ein wenig befördern. Diane lehnte rundheraus ab. Diese Intervention stellte eine – wenn auch indirekte – Einmischung ihrer Mutter in ihr Leben dar. Dann besann sie sich. Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Ängste und ihr Zorn ein so wichtiges Vorhaben vereitelten. Was Charles Helikian wirklich unternahm, erfuhr sie nie, doch einen Monat später hatte sie die Genehmigung der Adoptionsstelle.
    Nun musste sie nur noch ein Waisenhaus finden, das ihr ein Kind anvertraute – Diane hatte sich immer vorgestellt, dass sie einen kleinen Jungen aus einem fernen Land adoptieren würde. Sie wandte sich an zahlreiche Organisationen, die Waisenhäuser in allen Teilen der Welt unterstützten, und fühlte sich wieder einmal verloren. Und wieder trat ihr Stiefvater als Vermittler auf den Plan. Als gelegentlicher Sponsor ließ er der Stiftung Boria-Mundi, die mehrere Waisenhäuser in Südostasien finanzierte, alljährlich eine bedeutende Summe zukommen. Falls Diane einverstanden sei, sich an diese Stiftung zu wenden, könnten die letzten Schritte sehr schnell über die Bühne gehen.
    Drei Monate später suchte sie das Waisenhaus von Ranong auf, nachdem sie schon zuvor zweimal nach Bangkok geflogen war, um alle administrativen Hürden hinter sich zu bringen. Charles hatte die Auswahl des Mündels überwacht und dabei besonders den Umstand berücksichtigt, dass Diane, anders als die meisten Adoptivmütter, ein Kind von mehr als fünf Jahren bei sich aufnehmen wollte. Im allgemeinen ziehen Adoptiveltern ein Neugeborenes vor, weil sie davon ausgehen, dass dem Säugling die Anpassung leichter fällt. Diane widerstrebte dies, ja, sie empfand einen regelrechten Abscheu: Die Vorstellung, dass manche Waisen, die ohnehin alles verloren haben, zum Überfluss auch noch das Pech haben, dass sie schon zu groß sind oder zu spät ausgesetzt wurden, brachte sie ganz selbstverständlich dazu, sich gerade für die Übriggebliebenen zu interessieren …
    Auf einmal schreckte der kleine Junge neben ihr auf. Diane öffnete die Augen und stellte fest, dass die Kabine des Flugzeugs von hellem Sonnenlicht erfüllt war, und sie begriff, dass sie zur Landung ansetzten. In jäher Panik drückte sie das Kind an sich
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