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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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geschleudert und prallte mit dem Gesicht gegen eine Marmorkante. Diane hatte ihm einen Schlag mit dem Ellenbogen versetzt – jang tow . Noch einmal dachte sie: NEIN , doch gleichzeitig schoss ihre Hand vor und wie ein Rammbock in die Rippen des zweiten Gegners, die ein trockenes Splittern von sich gaben. Er landete auf dem Büffet, das unter Getöse zusammenbrach.
    Diane rührte sich nicht mehr. Eines der Grundprinzipien von Wing-Tsun ist der äußerst sparsame Gebrauch von Kraft und Atem. Der letzte Angreifer hatte sich aus dem Staub gemacht. Erst jetzt wurde sie sich der entgeisterten Mienen, des verlegenen Raunens ringsum bewusst. Sie setzte ihre Brille wieder auf. Sie war selbst befremdet – nicht von ihrer Gewalttätigkeit oder dem Skandal. Sondern von ihrer eigenen Ruhe.
    Irgendwo hinter ihr fing Nathalie zu kreischen an: »Bist du jetzt komplett durchgeknallt, oder was?«
    Diane drehte sich langsam zu ihr um und erklärte: »Tut mir leid.«
    Sie durchquerte das Zimmer, dann wiederholte sie über die Schulter, schreiend: »Tut mir leid!«
    Der Boulevard Saint-Michel war genau so, wie sie gehofft hatte.
    Menschenleer. Eisig. Hell erleuchtet.
    Diane marschierte unter Tränen, gedemütigt und erleichtert zugleich. Jetzt hatte sie den Beweis, auf den sie gewartet hatte. Den Beweis, dass ihr Leben für immer genau so verlaufen würde: außerhalb des Kreises, fern von den anderen. Und wieder dachte sie an das Ereignis, mit dem alles begonnen hatte, diese grausame Szene, die ihre natürlichsten Impulse zerstört und rund um ihren Körper eine Festung errichtet hatte: unsichtbar, unverständlich – und uneinnehmbar.
    Sie sah die Weiden wieder vor sich, die Lichter.
    Sie spürte den Knebel aus Gras im Mund, den Atem unter der Vermummung.
    Und sie sah auch mit einer Aufwallung von Hass das Gesicht ihrer Mutter – doch dann lächelte sie müde: An diesem Abend hatte sie nicht mehr die Kraft, irgendjemanden zu hassen. Sie erreichte die Place Edmond-Rostand, im Brunnen spiegelten sich die Lichter, und links von ihr raschelte leise das freundliche Laub des Jardin du Luxembourg. Spontan reckte sie sich und berührte mit den Fingerspitzen die Blätter an den Ästen, die über das schwarz-goldene Gitter hingen.
    Mit einem Mal fühlte sie sich so leicht, dass sie meinte, nie wieder fallen zu können.
    Dies geschah am Samstag, dem 18. November 1989. Diane Thiberge war soeben zwanzig geworden, aber sie wusste: Ihr Leben als junges Mädchen hatte sie für immer begraben.
     

 
     
KAPITEL 4
     
    »Brauchen Sie etwas?«
    »Nein, danke.«
    »Sicher nicht?«
    Diane sah auf. Die Stewardess – blaues Kostüm und purpurnes Lächeln – bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick. Einem Blick, der sie endgültig in Harnisch brachte. Sie mühte sich damit ab, die Fleischstücke des »Juniormenüs« zu zerkleinern, das man dem kleinen Jungen kurz nach dem Start in Bangkok vorgesetzt hatte, aber das Plastikbesteck verbog sich unter ihren Fingern, und mit ihren hektischen Gesten brachte sie nichts weiter fertig, als das Essen in der Schüssel zu zermanschen. Sie hatte das Gefühl, alle beobachteten sie und weideten sich an ihrer Ungeschicktheit, ihrer Nervosität.
    Die Stewardess ging weiter. Diane hielt dem Jungen wieder einen Bissen hin. Er weigerte sich, den Mund zu öffnen. Das Blut schoss ihr in die Wangen, und sie fühlte sich vollkommen hilflos. Wieder dachte sie an den Anblick, den sie bot mit ihrem hochroten Kopf, ihren zerzausten Haaren und ihrem schwarzäugigen kleinen Jungen. Wie oft hatten die Stewardessen genau diese Szene schon beobachtet? Aufgelöste, desorientierte Europäerinnen, die ihr künftiges Schicksal mit nach Hause nahmen?
    Die blaue Gestalt tauchte wieder auf. »Bonbons vielleicht?«
    Diane lächelte angestrengt. »Nein, wirklich: Es ist alles bestens.«
    Wieder versuchte sie dem Jungen einen Bissen einzuflößen, doch es war vergeblich. Das Kind starrte unverwandt auf den Bildschirm, auf dem ein Zeichentrickfilm lief. Sie sagte sich, dass eine verweigerte Mahlzeit keine Staatsaffäre ist, schob das Tablett beiseite und setzte Lucien die Kopfhörer auf. Dann zögerte sie. Sollte sie den englischsprachigen Kanal einstellen? Den französischen? Oder einfach nur Musik? Alles verunsicherte sie, selbst das geringste Detail. Sie entschied sich für den Musikkanal und stellte behutsam die Lautstärke ein.
    Die Tabletts wurden eingesammelt, und im Flugzeug kehrte Ruhe ein. Die Beleuchtung war gedämpft, Lucien döste
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