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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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nachdachte. Sie zog Lehren aus ihrem Erlebnis. Die Welt war in Wahrheit nichts als Gewalt, Verrat, Unheil. Das Leben beruhte auf dieser unbezähmbaren Kraft, diesem verhärteten Knoten des Hasses in der Seele jedes Menschen, der sich beim geringsten Anlass entzünden konnte. Diane nahm sich vor, diese Macht zu studieren. Die strukturelle Gewalt der Welt zu begreifen, zu beobachten, zu analysieren.
    Sie fasste zwei Entschlüsse.
    Der erste: nach dem Abitur Biologie und Ethologie zu studieren – die Wissenschaft vom Verhalten der Tiere. Ihr Spezialgebiet kannte sie bereits: Raubtiere. Und im besonderen die Jagd- und Kampftechniken, mit deren Hilfe die Raubkatzen, Reptilien, ja die Insekten über ihr Revier herrschten und überlebten, indem sie andere vernichteten. Für sie war es eine Möglichkeit, direkt ins Wesen der Gewalt einzutauchen. Einer natürlichen Gewalt, frei von jeglicher Moral und jedem anderen Beweggrund als der einfachen Logik des Lebens. Vielleicht war es auch eine Möglichkeit, ihren »Unfall« zu legitimieren, das Grauen zu lindern, indem sie die Gewalt als solche in eine umfassendere, universalere Logik einordnete.
    Soviel zur geistigen Ebene.
    Auf der körperlichen Ebene entschied sich Diane für Wing-Tsun.
    Wörtlich: »ewiger Frühling«. Wing-Tsun ist die schnellste, effizienteste Variante des Shaolin-Boxens. Eine Technik, die den Nahkampf bevorzugt und angeblich von einer buddhistischen Nonne entwickelt worden war. Mit Beginn des Schuljahrs 1983 schrieb sich Diane an einer Schule nahe ihrem Internat in der Umgebung von Fontainebleau ein. Bereits im ersten Jahr bewies sie ein durchaus ungewöhnliches Talent. Zu dem Zeitpunkt maß sie über eins fünfundsiebzig und wog knapp fünfzig Kilo. Trotz ihrer stangenförmigen Erscheinung legte sie die Geschmeidigkeit einer Akrobatin und eine außerordentliche Muskelkraft an den Tag.
    Ihre Lehrer, die sich ihrer Fähigkeiten bewusst waren, boten ihr eine vertiefte Ausbildung an, einschließlich einer Einführung ins wu-te , der Tugend der martialischen Disziplin. Diane lehnte ab. Von Philosophie oder gar kosmischer Energie wollte sie nichts hören. Sie hatte nichts anderes im Sinn, als ihren Körper zu schmieden wie eine Waffe, um nie, niemals mehr das junge Mädchen zu sein, das man überrumpeln konnte.
    Die Meister, weise und unbeugsame Asiaten, gerieten durch ihre aggressive Reaktion ein wenig aus der Fassung, doch sie hatten eine außerordentliche Kämpferin vor sich, das wussten sie, und Philosophie hin oder her – solche Begabungen waren selten.
    Das Training wurde verstärkt. Wettkampf folgte auf Wettkampf. 1986 errang die Schülerin Thiberge den Titel der französischen Jugendmeisterin. 1987 gewann sie bei den Europameisterschaften den silbernen und im Jahr darauf den goldenen Gürtel. Ihre Siege erfolgten blitzschnell. Die Schiedsrichter waren verdutzt und das Publikum ein wenig enttäuscht. Diane, die immer nahe war, immer nach vorn geneigt, wankte nie und hielt den Blick stets auf die Hände ihrer Gegnerinnen geheftet. Während die Mädchen noch nach einer Lücke suchten, lagen sie schon mit beiden Schultern auf dem Boden.
    Nichts schien den Aufstieg der jungen Athletin aufhalten zu können. Doch im Jahr 1989 verzichtete Diane auf die Teilnahme an den Wettkämpfen. Sie war knapp zwanzig, und wie durch ein Wunder hatte ihr Gesicht nie einen Schlag abbekommen, ihr Körper nie eine ernsthafte Verletzung davongetragen. Damit wäre es früher oder später vorbei, das wusste sie – und ohnehin, fand sie, hatte sie ihr Ziel erreicht.
    Sie war geworden, was sie sich vorgenommen hatte: ein in jeder Hinsicht gefährliches Mädchen, dem man lieber nicht zu nahe kam.
     
     
     

KAPITEL 3
     
    Diane Thiberge hörte damals Frankie Goes to Hollywood, mit einem winzigen Walkman und voll aufgedrehten Bässen. Sie liebte diese Gruppe. Weil sie am Schnittpunkt mehrerer, scheinbar unvereinbarer Richtungen stand, die sie auf geniale Weise zu einem grandiosen Sound verband.
    Schon deshalb, weil sie eine Gruppe knallharter Burschen waren, Straßenjungen direkt aus Liverpool. Außerdem waren sie eine Post-Disco-Band und hatten ein Gefühl für Rhythmik, für Groove entwickelt, der jeden Discobesucher im Handumdrehen mitriss. Schließlich war Frankie eine Schwulen-Band. Und das war das Verrückteste daran: Diese geballte Wucht aus Gebrüll, barbarischen Rhythmen und kämpferischen Parolen kam von einer Bande von Irren, die direkt vom Hof Ludwigs XIII. zu stammen
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