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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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in meiner Vergangenheit gewühlt, in meinem Privatleben, hat mein Einkommen überprüft. Ich musste mich ärztlichen Untersuchungen und psychologischen Tests unterziehen. Ich musste neue Versicherungen abschließen, bin schon zweimal nach Bangkok geflogen und habe ein Vermögen ausgegeben. Heute ist meine Akte absolut in Ordnung, absolut legal. Ich habe soeben zwölftausend Kilometer hinter mich gebracht und muss übermorgen wieder im Büro sein. Also könnten wir jetzt bitte zur Sache kommen?«
    In dem Raum aus nacktem Beton trat ein Schweigen ein, das sich qualvoll in die Länge zog. Auf einmal verzog sich das Gesicht der alten Frau zu einem unerwarteten Lächeln. »Kommen Sie«, sagte sie.
    Sie durchquerten einen Saal, in dem mehrere Deckenventilatoren rotierten. Vor den Fenstern blähten sich Gardinen, und durch die Luft zogen Schwaden von Karbolsäure, wie von Fieberschüben herbeigeweht. Zwischen den Reihen aus Betten mit eisernen Gitterstäben johlten, liefen, spielten, tobten Kinder aller Altersstufen, während die Aufseherinnen die Lage in den Griff zu bekommen suchten. Die Energie der Kindheit schien sich hier gegen eine süßliche Atmosphäre der Krankheit zu wehren, und tatsächlich wurden Diane bald erschreckende Details bewusst. Verkümmerungen, Narben, Gebrechen. Dianes Blick fiel auf ein Baby, das weder Hände noch Füße hatte. Térésa Maxwell bemerkte dazu: »Er kommt aus Südindien, jenseits der Andamanen. Fanatische Hindus haben ihn verstümmelt, nachdem sie seine Eltern umgebracht hatten. Moslems.«
    Diane verspürte einen neuerlichen Brechreiz, und gleichzeitig kam ihr ein absurder Gedanke: Wie erträgt die Frau bei dieser Hitze einen Pullover?
    Térésa ging weiter. Sie kamen in einen zweiten Saal. Wieder nur Betten. Und bunte Luftballons, die durch den Raum schwebten. Die Frau deutete zu einer Traube junger Mädchen hinüber, die sich auf einem einzigen Bett zusammendrängten: »Sie sind vom Volk der Karen. Ihre Eltern sind letztes Jahr in einem Flüchtlingslager bei lebendigem Leib verbrannt. Sie …«
    Diane umklammerte jäh den Arm der Frau, bis ihre Knöchel weiß wurden. »Madame«, flüsterte sie, »ich will ihn sehen. Sofort.«
    Die Direktorin lächelte ohne Fröhlichkeit. »Da ist er doch«, sagte sie.
    Diane sah sich um und erblickte in einer Ecke des Saals das Ziel ihrer Reise, die Aufgabe ihres Lebens: einen einsamen kleinen Jungen, der mit Bändern aus Krepppapier spielte. Sie erkannte ihn augenblicklich – man hatte ihr Polaroidfotos geschickt. Seine Schultern waren so schmächtig, dass man meinen konnte, der Wind müsste ihm helfen, sein T-Shirt zu tragen. Sein Gesicht, viel bleicher als das der anderen, drückte eine intensive, angespannte, beinahe allzu nervöse Konzentration aus.
    Térésa Maxwell verschränkte die Arme. »Er wird sechs oder sieben Jahre alt sein, genau lässt sich das nicht sagen. Wir wissen ja überhaupt nichts von ihm, weder seine Herkunft noch seine Geschichte. Wahrscheinlich ist er ein Überlebender eines Lagers. Oder der Sprössling einer Prostituierten. Er wurde in Ranong unter den Bettlern gefunden. Er lallt in einem Kauderwelsch vor sich hin, das hier keiner versteht. Zwei Silben haben wir schließlich herausgehört, die immer dieselben sind, ›lü‹ und ›sian‹. Deswegen nennen wir ihn Lü-Sian.«
    Diane versuchte zu lächeln, doch ihre Lippen gehorchten ihr nicht. Sie hatte die Hitze vergessen, die Ventilatoren, ihre Übelkeit. Sie schob ein paar Luftballons zur Seite, trat auf das Kind zu und kauerte sich neben ihm nieder. Dort verharrte sie und betrachtete ihn wie ein Wunder.
    »Lü-Sian, ja?«, murmelte sie. »Na, dann werden wir dich doch Lucien nennen.«

 

 
KAPITEL 2
     
    Diane Thiberge war einmal ein ganz normales Mädchen gewesen. Ein leidenschaftliches Kind, das sich allem, was es anfing, mit Konzentration und Eifer widmete. Wenn sie spielte, in sich versunken, lag in ihrer Miene so viel Ernst, dass die Erwachsenen Hemmungen hatten, sie zu stören. Wenn sie vor dem Fernseher saß, legte sie eine solche Aufmerksamkeit an den Tag, dass man meinen konnte, sie versuchte ihrem Gedächtnis jedes einzelne Bild einzuprägen. Sogar ihr Schlaf war wie ein Willensakt, eine Hingabe ihrer gesamten Person, als hätte sie sich vorgenommen, morgens munterer und lebhafter denn je aus den Federn zu springen.
    Diane wuchs voller Vertrauen heran. Sie ließ sich von den Geschichten wiegen, die man den Kindern abends vor dem Zubettgehen ins Ohr
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