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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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flüstert. Sie betrachtete ihre Zukunft durch trügerische farbige Filter, Zeichentrickfilme, Bilderbücher, Marionettentheater. Ihr Herz war erfüllt von Flaumfedern, und ihre Gedanken kristallisierten sich wie die dicken Schneeflocken im Frühling um glückliche Gewissheiten. Sie wusste, dass es immer einen Prinzen geben würde, der sie entführte, eine Patin, die sie in ein Lichtgewand kleiden würde, wenn es Zeit war für den Ball. Alles stand schon irgendwo geschrieben, man brauchte nur zu warten.
    Und Diane wartete.
    Doch es waren andere Mächte, die sie mit sich rissen.
    Mit zwölf Jahren fühlte sie seltsame Begierden in sich aufsteigen. Sie hatte das Gefühl, als dehnte ihr Körper sich aus und füllte sich mit Verwirrung. Sie empfand keine zarten Sehnsüchte mehr, sondern dunkle, beängstigende Triebe, die einen geheimnisvollen Schmerz in ihre Brust gruben. Sie sprach mit ihren Freundinnen darüber. Die Mädchen grinsten und zuckten die Achseln, und Diane begriff, dass sie genau dieselben Empfindungen erlebten, doch zogen sie es vor, sich hinter ihren unsicheren Schminkversuchen oder dem Rauch ihrer ersten Zigaretten zu verschanzen. Diane passten solche Ausflüchte nicht. Sie wollte sich der Realität stellen, wie auch immer sie aussah.
    Im Übrigen entwickelte sie einen erbarmungslos scharfen Blick. Sie fühlte sich jetzt in der Lage, sofort alle Lügen, alle Kompromisse ihrer Mitmenschen zu entlarven. Die Welt der Erwachsenen stürzte von ihrem Sockel. Die Männer und Frauen, die man ihr stets als Vorbilder präsentiert hatte, erschienen ihr mit einem Mal als verweichlichte, hinterhältige, heuchlerische Feiglinge.
    Allen voran ihre Mutter.
    Eines Morgens gelangte Diane zu der Erkenntnis, dass die Frau, mit der sie zusammenlebte, sie nicht liebte, von Geburt an nie geliebt hatte. Sybille Thiberge mochte sich noch so sehr anstrengen, ihre Tochter glaubte an die Darstellung der vorbildhaften Mutter nicht mehr. Im Gegenteil, sie empfand immer größeres Misstrauen. Zu blond war sie, zu schön, zu sinnlich. Diane zählte die kleinen Details auf, die sie als Beweise der künstlichen Natur ihrer Mutter nahm, bei der sich alles nur um sie selbst und ihre Verführungskünste drehte. Die Affektiertheit, die sie zur Schau trug, sobald ein Mann ihr schmeichelte, dieses extravagante Lachen, kaum tauchte in der Umgebung ein männliches Wesen auf – das alles war unecht, kalkuliert, geziert. Sie war eine Lüge von Kopf bis Fuß – und das Zusammenleben von Mutter und Tochter eine einzige Verstellung.
    Den Beweis bekam sie, als sich der Unfall ereignete, im Juni 1983, als Diane allein von der Hochzeit ihrer Patentante Isabelle Ybert zurückkehrte. Sybille hatte es vorgezogen, am Arm ihres neuesten Liebhabers eigene Wege zu gehen. »Der Unfall.« Die Bezeichnung war keineswegs zutreffend, doch so pflegte Diane das Unglück zu nennen, das ihr in den Gassen von Nogent-sur-Marne zugestoßen war. Noch als Erwachsene weigerte sich sich, daran zu denken. Geblieben war ihr nur ein Splitter Zeit, in dem Weidenlaub und ferne Lichter blitzten und ein vermummter Kopf keuchte, ganz nah … Und wenn sie ein Zweifel an der Realität des Ereignisses beschlich, brauchte sie nur die feinen Narben zu betasten, die sich unter ihren Schamhaaren wölbten.
    Das Mädchen wusste nicht, wie ein derartiger Alptraum Wirklichkeit hatte werden können, doch eines wusste sie mit Sicherheit: Es war die Schuld ihrer Mutter. Wegen ihres Egoismus, ihrer absoluten Gleichgültigkeit gegen alles, was nicht mit ihren muskulösen Hinterbacken und der wilden Begierde ihrer Liebhaber zu tun hatte, die einen unheilvollen Kreis um sie zogen. Hatte sie ihre Tochter nicht genau aus diesem Grund allein nach Hause geschickt? Hatte sie nicht Diane einfach vergessen? Der Angriff war der Beweis, der sie überführte, ein für alle Mal.
    Diane war knapp vierzehn. Sie erzählte Sybille kein Wort. Ihre Rache schien ihr vollständiger, gelungener, wenn sie ihre Mutter in Unkenntnis des Dramas ließ. Allein leckte sie ihre Wunden und verschloss ihr Leid über dem Geheimnis. Dafür verlangte sie, mit dem Beginn des nächsten Schuljahrs ins Internat geschickt zu werden. Sybille sträubte sich eine Zeit lang der Form halber, doch dann gab sie der Forderung nach und war in Wahrheit nur zu glücklich, dass sie diese wortkarge Bohnenstange, in der ihr auf amourösem Gebiet allmählich eine Konkurrenz heranwuchs, endlich los war.
    Wortkarg, das war Diane allerdings. Weil sie
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