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Der Staubozean

Titel: Der Staubozean
Autoren: Bruce Sterling
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meine Staubmaske an einen Trödelladen verkauft hatte, fühlte ich mich fast wieder wie in alten Zeiten. Aber nicht ganz: Meine Persönlichkeit besaß irgendwie eine unwirkliche Eigenschaft, als würde ich von dem zerbrechlichen und freundlichen Geist meines alten Ichs gequält.
    Ich schritt die Devotion Street hinunter, einen belebten Boulevard, an dem sich vorwiegend Restaurants angesiedelt hatten. Ich ließ die strahlende nullaquanische Sonne mein Gesicht berühren, das von Monaten hinter einer Maske blaß geworden war. An den Straßentischen eines Restaurants legte ich eine Pause ein. Ich hatte meinen Seesack gegen einen schicken Koffer eingetauscht. Den öffnete ich und holte mein einziges Andenken an Dalusa heraus: eine einzelne Strähne ihres Haars, die ich in ihrem Zelt gefunden hatte. Ich wagte es nicht, sie allzuoft in die Hand zu nehmen, da ich befürchtete, sie würde sich auflösen; für gewöhnlich hielt ich sie in einem kleinen Metallbehälter verschlossen. Später habe ich sie als Erinnerungsstück in Plastik eingießen lassen.
    Ich steckte die Strähne wieder in den Koffer und klappte ihn zu. Dann bestellte ich ein Bier. Als ich trank, überfiel mich ein Gefühl der Einsamkeit. Normalerweise war ich selbstbewußt, und der plötzliche stechende Schmerz überraschte mich. Vielleicht war es der latente Schmerz über Dalusas Tod; das Bild ihres vollkommenen Gesichts tauchte vor mir auf. Als sie zum letzten Mal hinausgeflogen war, hatte sie einen großen Teil von mir mitgenommen; ich fühlte mich innerlich ausgehöhlt, leer und in Not.
    Das Vernünftigste wäre es gewesen, geradewegs zum Sternenschiffhafen zu gehen und ein Ticket für den erstbesten Flug zu kaufen.
    Aber ich spürte einen plötzlichen Drang, das Neue Haus zu besuchen. Die langen Monate und die vielfachen Katastrophen hatten meinen Groll zum Teil abgeschliffen. Wenn man den Tatsachen ins Auge sah, war das Neue Haus alles, was ich als Heimstatt besaß, seine Bewohner waren die Dinge, die am ehesten meine Freunde waren. Ich schuldete es mir selbst, sie aufzusuchen; ihnen schuldete ich es, sie davor zu warnen, sich in die schreckliche kulturelle Symbiose Nullaquas einzumischen.
    Und dann war da auch die Aussicht auf Rache, die ich erstaunlich angenehm fand. Es könnte gefährlich sein, sie mit meinem Vorrat an Syncophin, vielleicht dem letzten, den es auf der Hochinsel noch gab, zu verhöhnen. Aber sie hatten alle Geld. Eine verschwenderische Bezahlung würde dazu beitragen, meine Abneigung zu mildern. Und ich war einsam.
    Also nahm ich einen Pendelzug zur Piety Street und ging vier Querstraßen weiter zum Neuen Haus. Es dämmerte schon, aber keine der Lampen brannte. Plötzlich stürmten Ahnungen auf mich ein. Meine Entzugserscheinungen waren schlimmer, als ich zugeben wollte, und plötzlich überfiel mich der Gedanke, daß die Flacker-Vorräte im Neuen Haus äußerst knapp sein mußten. Vielleicht hatten sie nicht die Beherrschung gehabt, ihre letzte Gallone vernünftig zu rationieren.
    Meine Vorahnungen wurden stärker. Ich unterdrückte meine Phantasien und versuchte, die Tür zu öffnen; sie war nicht verschlossen.
    Drinnen war es dunkel. Ich schaltete das Licht an. Der Wohnraum war ein einziges Trümmerfeld. Die Couch war auseinandergenommen worden, ihre spärliche Füllung lag über ein Dutzend Stellen verteilt herum. Den Teppich bedeckte dicker Staub. Die Sessel waren fort.
    Meine Nüstern, durch den langen Entzug empfindlich geworden, nahmen einen schwachen, widerlich süßen, fauligen Geruch auf. Ich folgte ihm in die Diele und trat auf die zerschmetterten Reste des Dichters Simon.
    Am Schrank in der Diele war der Geruch am stärksten. Ich riß ihn auf. Der ausströmende Gestank war überwältigend, wir wurde übel. Auf dem Boden des Schranks kauerte Timon Hadji-Ali mit aufgeschlitzter Kehle. Er hatte schließlich den Tod getroffen, nach dem er so begierig gesucht hatte. Seine Augen, weit geöffnet, waren von einer dichten Staubpatina bedeckt. Sein faltenreiches, alterndes Gesicht war aufgedunsen; eine geschwärzte Zunge kam zwischen den Zähnen hervor, die ein Todesgrinsen trugen. Er war schon seit einigen Wochen tot.
    Ich begann, das übrige Haus zu durchsuchen. An der Tür von Mr. und Mrs. Undines Zimmer warnte mich ein vielsagender Geruch.
    Schließlich gab ich einer morbiden Neugier nach und öffnete die Tür. Sie hatten sich erhängt. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, sie abzuschneiden, aber sie hatten schon seit langem
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