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Der Staubozean

Titel: Der Staubozean
Autoren: Bruce Sterling
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Schuppen. Er hatte acht Augen, die wie Schmucksteine in einem Stirnband rund um den Kopf saßen.
    Er saß allein in einem kleinen sechseckigen Zimmer, das von ständig sich ändernden geometrischen Mustern winziger Glühbirnen in der Decke erhellt wurde. In einer Ecke glomm Weihrauch. Vor ihm befand sich auf einem flachen schwarzen Podest ein Gegenstand, den man am besten als Skulptur bezeichnen konnte. Ihr Kern bestand aus einem festen gelben Zylinder, der von vielfarbigen Kügelchen umhüllt wurde, die sich auf komplizierte Weise miteinander verbanden und sich drehten; sie strahlten wie Wintersterne durch eine Nebelwolke.
    Ich hatte eine Intuition, die nicht aus mir selbst kam. Ich erkannte die Bedeutung des Objekts sofort. Es war gleichzeitig ein Kunstwerk, ein religiöses Symbol und eine physikalische Darstellung der Persönlichkeit seines Besitzers.
    Er betrachtete die Skulptur eingehend. Er war unzufrieden. Von den Tausenden Kügelchen erloschen plötzlich drei. Er hatte gerade die Arbeit eines Monats zerstört.
    Sein letztes Werk war er zu eilig, zu überhastet angegangen. Die Belastungen der letzten Monate hatten ihn unterschwellig beeinflußt, und eine wahre Seelenskulptur erforderte Ausgeglichenheit und Ruhe.
    Er wollte Frieden. Aufhören. Elektropsychisches Nirwana, die dynamische Freude, die mehr als nur religiöse Befriedigung, die kommen würde, wenn seine Persönlichkeit mit der Skulptur verschmolz und erstarb. Freunde würden seine Seele in die Unendlichkeit des Raums befördern, damit sie dort ewig dahintrieb. Diese Überzeugung war einst ihr religiöser Glaube gewesen, aber jetzt war sie buchstäbliche Wahrheit. Die Alte Kultur hatte sie dazu gemacht.
    Die Umgebung veränderte sich, ich schwebte aus dem Zimmer des Zentauren in die Straßen der Stadt. Ein unglaubliches Gedränge herrschte dort: Mitglieder einer Rasse, die aus den Möglichkeiten chirurgischer Veränderung rein hedonistische Freude gewann. Sie verwandelten Körper, Geschlecht, Alter und Rasse ebenso leicht, wie sie atmeten, und ihre fröhliche Geringschätzung jedweder Uniformität war berauschend. Da gab es große, stachelige Zweibeiner; hundeähnliche Geschöpfe mit Menschenhänden; große, kriechende Rümpfe mit einer Vielzahl krabbengleicher Scherenbeine; behaarte, kugelförmige Wesen mit langen, warzigen, kranartigen Beinen und gewaltigen, ungleichförmigen Flügeln; Dinger auf Rädern oder Schienen mit großen traubenförmigen Klumpen aus Dutzenden von Augen und Ohren; Dinger, die flogen, glitten, die sich krümmten und wälzten; Dinger, die sich in Herden bewegten oder durch lange Nabelschnüre verbunden waren; Dinger, die sich wie zusammengepflanzte Familien als große vielköpfige Hybride bewegten. Es wirkte alles ganz natürlich: Regenbogenwesen in den Regenbogenstraßen; Menschen schienen im Vergleich zu ihnen einförmig und ameisengleich zu sein.
    Aber es gab auch Angst, eine unterschwellige Unruhe, das Wissen, daß Feinde unter ihnen waren. Gegen die Errichtung der beiden Vorposten, die trotz ihrer ästhetischen Qualitäten nur weniger wichtige Außenstationen waren, hatte es keinen Widerstand gegeben. Sie waren hoch über dem Krater errichtet worden, um jede mögliche Bioverseuchung zu vermeiden. In den ersten Jahren war alles glatt verlaufen; nur die beunruhigende Anwesenheit bestimmter Anomalien im Krater hatte die Routine unterbrochen.
    Tiefenlotungen funktionierten nicht. Die ersten wirklichen Probleme tauchten mit seismischen Tiefensondierungen auf. Die Ergebnisse waren nicht eindeutig; dann kam ein unheilvolles Rollen aus den Tiefen des Kraters. Es konnte sich um eine Verwerfung handeln, verursacht durch die anfänglichen Explosionen. Aber die Erdstöße schienen wahllos an Zufallsstellen aufzutreten.
    In den Strömungsstrukturen des Staubs kam es zu einer Veränderung; direkt unter den beiden Vorposten, siebzig Meilen tief, erschienen träge graue Wirbel. Man schickte Sonden hinunter, um sie zu erforschen. Der Staub zeigte eine bis dahin unbekannte Eigenschaft; offensichtlich durch statische Anziehung verursacht, sprang er hoch und heftete sich an die Sonden, überschüttete sie, bis ihr Antrieb ausfiel und sie surrend in die Tiefe stürzten.
    Die Wissenschaftler der Alten Kultur waren verblüfft. Gab es intelligentes Leben in dem Krater? Radiosignale fanden keine Antwort; nach einigen Monaten wurde eine massiv gepanzerte Sonde in den Staub hinabgeschickt. Sie traf auf keinen Widerstand; sie sank zwei Meilen in die
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