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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit
Autoren: Marcelo Figueras
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aus dem Tal heraus auf die schmale Brücke über dem Isefjord fahren, ein perfektes Grab für das große Geheimnis.
    Der Koffer war alt, aber immer noch elegant, aus bordeauxfarbenem Leder, das durch die Zeit und die Abnutzung schwarz geworden war. Er kam ihm viel schwerer vor, als die Gegenstände darin vermuten ließen. Er spielte mit dem Verschluss, ließ ihn immer wieder auf- und zuschnappen. Ein einfaches Design, drei Metallteile, Federn, die goldene, von Säure zerfressene Lackierung. Er fragte sich, wie viele Jahrhunderte an Technologie notwendig gewesen waren, um diesen Verschluss herzustellen. Er stellte sich vor, wie ihn andere Menschen zu einer anderen Zeit in Ruinen fanden; ein plumper Gegenstand von zweifelhaftem Nutzen, aber Ausdruck der Entschlossenheit der Menschen, die ihn geschaffen hatten.
    Er öffnete die Tür und warf den Koffer hinaus in die leere Weite. Die Brücke war noch in weiter Ferne, doch er wollte nicht länger warten.
    Der Koffer beschrieb eine Parabel. Van Upp hörte nicht, wie er aufschlug. Er fragte sich, ob ihn jemand im Schnee finden würde, so wie er das Spielzeug von Chi-Chia im Matsch gefunden hatte.
    Es roch nach Wasser. Der Zug fuhr auf die Ebene hinaus und erhob sich langsam über die Erde. Die Brücke war nicht mehr weit.
    XXIX
    Er hatte vor, zu den Hügeln von Qaqortoq hinaufzusteigen und sich dort zwischen dem gefrorenen Wasser und dem Wind aufzulösen. Das wäre ein gutes Ende. Von dort oben würde er alles sehen; er könnte sich von allem verabschieden.
    Der Verstand sagte ihm, das Opfer war sinnlos. Und wenn Samael oder der Virus oder was es auch sein mochte, gar nicht mehr in seinem Körper waren? Wenn er ihn am Abend des Gewitters an Meis Leib weitergegeben hatte? Warum tat ihm der Kopf nicht mehr weh, obwohl er keine Tabletten mehr nahm? Warum diese plötzliche Hautirritation wie bei Calabert?
    Alle Zweifel waren wie weggeblasen, als er tief einatmete und seinem Atemrhythmus folgte. Er konnte den Gedanken nicht mehr ertragen, dass jemand (nicht einmal dieser jemand, der sich vielleicht in Meis Leib befand) seinetwillen litt. Er ertrug es nicht, diesen Zustand noch länger aufrechtzuerhalten, dieses Spiegelkabinett, dieses Möbiusband. Wenn er daran dachte, zu fliehen, befiel ihn Schwindel, Unwohlsein. Wenn er das Richtige tat, fühlte er sich leicht. Sein Organismus war eine Maschine, deren Instrumente er endlich synchron bedienen konnte.
    Wenn sein Opfer sinnlos war, dann schadete er damit niemandem außer sich selbst; er war einer mehr auf der Liste der Toten. Aber wenn noch etwas von Samael in ihm war …
    Warum also warten? Jede Minute, die ihn von Qaqortoq trennte, war eine Minute, die der Versuchung geschenkt war.
    Das weiße Blatt unter ihm war nicht mehr der Boden, sondern die zugefrorene Fläche des Sees. Wenn er fiele, würde er sie durchbrechen und an diesem Punkt in die dunklen Wasser eintauchen.
    (Der Schlusspunkt.)
    Carranza hatte sich geirrt. Es stimmte nicht, dass ihm alles Menschliche fremd war. Im Gegenteil, er konnte sich in allem wiedererkennen. In Dumonts jugendlichem Drang und in Nadals Vernunft. In Carranzas Einsamkeit und in Noras Leidenschaft. In Benets Gewalttätigkeit und auch in seiner Schuld. In der stümperhaften Liebe seines Vaters. In Prades’ Ego, das so viel Schaden angerichtet hatte. Und selbst in der reinen Bösartigkeit des Henkers, dessen Blut ihn befleckt hatte und immer noch wie Feuer in ihm brannte.
    Er spürte den schneidenden Wind, den Zucker, der zwischen seinen Zähnen knisterte, das weiße Licht, das seine Augen wusch. Er nahm das Brummen der Maschine und den Geruch von verbranntem Öl wahr; die Erfindungskraft des Menschen erfüllte ihn mit Freude. Das Opfer war sinnlos. Aber deshalb würde es die Welt retten.
    Mit weit geöffneten Armen stürzte er sich ins Nichts.

Dank
    Die folgenden Texte waren für dieses Buch von unschätzbarem Wert: God, A Biography von Jack Miles (Vintage Books, 1995); The Book of J von Harold Bloom und David Rosenberg (Vintage Books, 1991); The Gnostic Scriptures, in der Übersetzung und mit Anmerkungen von Bentley Layton (Doubleday, 1987); The Hidden Face of God von Richard Elliot Friedman (Harper Collins, 1995) und Omens of Millenium von Harold Bloom (Riverhead, 1996).
     
    Das Gedicht von William Butler Yeats, aus dem die Zeilen des Mottos stammen, ist Teil des Bandes Michael Robartes and the Dancer aus dem Jahr 1921.
    Die Zeilen aus J.B. von Archibald MacLeish sind der Ausgabe des Verlags
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