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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit
Autoren: Marcelo Figueras
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kann, würdest du es gern erbringen. Ich habe dir diese Waffe mitgebracht, damit du sie gegen dich selbst richtest.«
    »Vater«, sagte Van Upp und sank auf die Knie. Seine Brust explodierte förmlich, trotzdem drang nicht ein Sauerstoffatom ein.
    »Dafür haben wir jetzt keine Zeit«, sagte Chiang noch einmal.
    »Ich habe ihnen gesagt, ich sei krank«, protestierte Urquiza und ließ die Pistole sinken.
    »Ihr Überlebensinstinkt funktioniert bestens«, sagte Chiang.
    »Wie können Sie sicher sein, dass er es ist«, fragte der alte Mann verzweifelt.
    Chiang wandte sich an Van Upp und bat ihn, ihm seinen Namen zu sagen.
    »Ehyeh-Asher-Ehyeh«, erwiderte Van Upp, ohne zu wissen, wie oder warum.
    Der alte Mann hob die Pistole und richtete sie wieder auf ihn.
    XXVII
    »Ich kann es nicht tun«, sagte er schließlich.
    Der Kerl mit den riesigen Knöcheln tauchte mit dem Gewehr in der Hand hinterm Vorhang auf und rief, die Polizei sei schon da.
    Chiang fluchte und versuchte Urquiza die Waffe zu entreißen.
    Es gab ein kurzes Gerangel und zwei Schüsse. Gleich darauf noch mehr Schüsse, aber die kamen von draußen.
    Van Upp kroch wie ein Reptil über den Boden, ohne sich umzuschauen.
    Das Feuer im Lager wurde durch eine Kugel ausgelöst. Das Füllmaterial und die Wollfasern fingen sofort Feuer und entzündeten den Rest. Die Steinmauern mit den Luken waren der perfekte Kaminabzug.
    Van Upp saß im Zug Kopenhagen-Hundested und erinnerte sich nur noch an die rettende Tür, an die Polizisten, die auf ihn zielten, die Atemnot, und wie er in helfende Arme sank und versuchte, alles auf einmal zu sagen, wie sehr es ihm leid tat, dass er geflohen war, dass er seinen Vater verloren hatte, dass dort drinnen alles verbrannte, was er geliebt hatte und was er gewesen war, er wollte, dass man ihn noch einmal zurückließ, denn es müsse einen Weg geben, alles zu regeln, das Möbiusband zu durchschneiden, dort, wo es schwach war, wo er war, diesmal hätte er den Mut, diesmal würde er nicht kneifen, und wie er entsetzt feststellen musste, dass einzig und allein die Worte über seine Lippen kamen, die er in den ersten Tagen, Wochen und Monaten noch so oft wiederholen sollte.
    »Ehyeh-Asher-Ehyeh.
    Ich bin, der ich bin. Der ich sein werde.«
    Bis die Betäubungsmittel und das Vergessen ihre Wirkung entfalteten.
    XXVIII
    Es heißt, Absinth sei ein gefährliches Getränk. Im Übermaß genossen, führe es zu Krämpfen, Blindheit und miserablen Gedichten. Die Gesundheitsbehörden auf der ganzen Welt sind sich darin einig, dass man den Verkauf verbieten muss.
    Großbritannien ist eins der Länder, die zu den Verlockungen dieses Schnapses nie nein sagen konnten.
    Absinth trinkt man nach einem Ritual. Es wird empfohlen, ein Glas mit kurzem Stiel, eiskaltes Wasser und ein Stück Würfelzucker zur Hand zu haben. Von diesen drei Dingen ist der Zucker das einzig Unverzichtbare. Erst wenn man ihn in dem Glas auflöst, bekommt der Absinth seine grüne Farbe und seinen pikant-herben Geschmack.
    Das war alles, was Van Upp bei der Bedienung vom Bordrestaurant bestellte: ein Stück Würfelzucker. Der Mann, der durch den Zug ging und die Bestellungen für das Mittagessen aufnahm, notierte es ganz ernst, verabschiedete sich und ging weiter seines Weges. Van Upp konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er stellte sich vor, wie der Mann in die Küche kam und dem beleibten Koch die Liste vorlas: Einmal Bœuf Bourguignon, eine Minestrone, einmal Würstchen mit Sauerkraut und …
    Als seine Bestellung eintraf (der Mann war so zuvorkommend, seine Bestellung vorzuziehen), legte Van Upp den Würfelzucker auf seine Zunge und nahm einen großen Schluck aus der Flasche. Er blieb so sitzen, mit geöffneten Augen, während der Zucker sich auflöste und die chemische Reaktion unter dem Gaumen beschleunigte.
    Es wurde dunkel. Der Zug Kopenhagen-Hundested durchquerte ein Tal zwischen zwei weißen Bergen, ein bedächtiger, sauberer Schriftzug auf dem Papier der Landschaft.
    Das Kind aus Lappland war eingeschlafen, sein Kopf ruhte auf dem Schoß der Mutter.
    Er nahm den Koffer und verließ den Wagen.
    Der eisige Wind, der durch eine offene Tür hereindrang, brachte ihn ins Taumeln. Er hielt sich am Geländer fest.
    In dem Koffer war alles, was Carranza mit dem Tod der Prätorianer in Verbindung brachte, angefangen bei dem Brief bis hin zur blonden Haarsträhne, deren Zellen Lucas’ Stempel trugen. Er schaute auf die Uhr. Wenn seine Berechnungen stimmten, musste der Zug bald
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