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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit
Autoren: Marcelo Figueras
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Weitblick. Weibliches Denken schätzte er äußerst gering ein.«
    »Das heißt, Sie glauben an die sich ergänzenden Betrachtungsweisen.«
    »Genau.«
    »So kann man es halten.«
    »Wie sollte man es sonst halten?«
    »Ein alter Freund, Carranza, ich hab ihn schon ewig nicht gesehen, hat mir mal attestiert, mir sei alles Menschliche fremd. In einem Brief, den ich sogar aufgehoben habe. Carranza sagt, ich hätte nicht den blassesten Schimmer vom Denken und Tun, vom Wünschen und Hassen der Männer und Frauen, und daher käme es, dass ich die banalsten Dinge als beachtenswerte Phänomene analysiere. Was mich zurück zur Frage nach dem Schicksal bringt. Lange habe ich geglaubt, meine Einweisung in die Psychiatrie sei ein verkappter Segen gewesen. Finden Sie es nicht auch seltsam, dass sie exakt in die Zeit des Prätorianerregimes fällt? Ich frage mich, ob mein Zusammenbruch nicht in gewisser Weise mit Intuition oder sogar Hellsichtigkeit zu tun hatte. Es heißt, ich hätte bei meiner Einweisung in verschiedenen Sprachen gesprochen.«
    Van Upp senkte den Blick, als hätte ihn eine plötzliche Unruhe überkommen.
    »Seit meiner Entlassung«, sagte er, »habe ich allerdings das Gefühl, der Horror, den ich erlebt habe, ist nichts im Vergleich zum Horror hier draußen. Sehen Sie das auch so, Duarte? Wer ist nun verrückter, ich oder die Leute auf der Straße, die so tun, als wäre nichts geschehen und als ginge sie die Vergangenheit nichts an?«
    Nora lächelte verlegen und zupfte an ihrer Kleidung herum. Sie überlegte, ob sie zu gewagt oder unpassend war.
    »Machen Sie sich ruhig einen Tee, wenn Sie mögen«, sagte Van Upp. Er zog zum Abschied den Hut und verschwand.
    IX
    Einmal wurde eine Studentin entführt. Wenige Tage später tauchte sie tot auf einer Müllkippe auf. Durchlöchert von einem Maschinengewehr. Die Prätorianer behaupteten, sie sei bei einem Fluchtversuch niedergestreckt worden. Der Bericht verschwieg jedoch, dass die Studentin frisch an der Wirbelsäule operiert worden und bei ihrer Entführung vom Hals bis zu den Füßen eingegipst gewesen war.
    Einmal wurde ein Blinder entführt. Den Blindenhund nahmen sie auch gleich mit.
    Einmal wurde ein Krüppel entführt, der auf einem Bahnhof gebettelt hatte. Im Gefangenenlager hängten sie ihn an den gefesselten Handgelenken auf und ließen ihn aus zwei Meter Höhe auf den Boden fallen; er fiel mit voller Wucht auf seine Beinstümpfe.
    Einmal wurde ein Druckereibesitzer entführt. Am nächsten Tag fuhr ein Lastwagen mit Soldaten und Werkzeug vor. Stück für Stück bauten sie die Druckerpresse ab und luden sie auf den Lastwagen. Auch ein Exemplar von Die Drehung der Schraube von Henry James wurde mitgenommen, weil ein Soldat glaubte, es handele sich um das Handbuch zum Aufbau der Maschine.
    X
    Während ihrer Herrschaft über Trinidad bauten die Prätorianer ein ebenso grausames wie effizientes Vernichtungssystem aus und trieben es bis zur Perfektion.
    An erster Stelle stand die Entführung ihrer Gegner. Es handelte sich um Entführungen, nicht um Festnahmen – ein gravierender Unterschied. Es gab niemals einen Haftbefehl, keinen Vermerk in den Gerichtsakten, auf den Gefängnislisten tauchten sie nicht auf, und keine Zeitung berichtete über den Vorfall. Kurz: Es existierten keinerlei Beweise dafür, dass die Prätorianer etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hatten. Das Ganze fand im Rahmen von aufwendigen Militärmanövern statt, bei denen Horden von Uniformierten, Panzer und Eingreiftrupps aufmarschierten. In Anlehnung an einen alten Film nannten sich die hierfür eingesetzten Einheiten selbst »Die Körperfresser«; ein Scherz schlichter Gemüter, der aber zeigte, wie sehr ihnen bewusst war, dass der Kitt ihrer Macht der Terror war.
     
    (Die aus den Lautsprechern der Militärwagen tönende Hymne ›Onward, Christian Soldiers‹ hatte unerwartete Folgen. Weil ihr Erklingen stets einen Massenexodus auslöste – die Menschen verließen sofort ihre Häuser, »Die Körperfresser« nahten, und jeder konnte ihnen zum Opfer fallen –, ließen auch die Diebe und Einbrecher sie in voller Lautstärke laufen, damit sie freie Bahn hatten. Bald war die Nachricht von diesem einfallsreichen Trick bis zu den Oberbefehlshabern vorgedrungen, die darin eine Goldader witterten. Von da an verfolgte man mit den musikalisch untermalten Streifzügen ein doppeltes Ziel: die Entführung und die systematische Plünderung der verlassenen Häuser.)
     
    Die Entführten wurden in
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