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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit
Autoren: Marcelo Figueras
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trieften vor Wasser. Es entbehrte nicht der Ironie, dass Abellán durch Einwirkung einer Flüssigkeit gestorben war, die keine Spur Alkohol enthielt.
    Nora hob ein Buch vom Boden auf. Es war der erste Band von Optimus princeps, Paribenis monumentaler Studie zu Kaiser Trajan; zwischen den Seiten, in denen es um Trajans Kindheit in Spanien ging, steckte ein Lesezeichen. Es war klitschnass.
    Ehrerbietig zog Van Upp den Hut. Er sah sich das kleine Waschbecken an, aus dessen Rohren angeblich das mörderische Wasser ausgetreten sein sollte. Er drehte einen Hahn auf.
    »Dem Bericht zufolge war der Abfluss nicht durch einen gewöhnlichen Stöpsel verschlossen, sondern jemand hatte Papier hineingestopft. Weiß jemand, um was für Papier es sich gehandelt hat? Eine Zeitung? Seiten aus einem Buch?«
    »Ist das wichtig?«, fragte Nadal, und der Spott in seiner Stimme war nicht zu überhören.
    »Ich frage mich, was Abellán gemacht hat, während das Wasser stieg«, sagte Dumont. »Hat er einfach dagesessen und gewartet? Im Untersuchungsbericht heißt es, der Promillegehalt in seinem Blut sei nicht auffallend hoch gewesen.«
    »Von anderen Substanzen ist darin nicht die Rede. Aber vielleicht stand er unter Drogen«, bemerkte Nadal.
    »Wohl kaum«, sagte eine Stimme von draußen. »Bis auf einen leicht erhöhten Zuckerspiegel und eine selbst für einen Gewohnheitstrinker harmlose Menge Alkohol war Abelláns Blut sauber.«
    »You wait on nature’s mischief! Come, thick night, and pall thee in the dunnest smoke of hell!«, sagte Van Upp.
    Nora, Dumont und Nadal sahen sich fragend an.
    Der Mann im Garten lachte. Sein Haar war grau und kraus wie der Schnurrbart. Er trug einen Dreiteiler und eine Brille mit schwarzem Metallgestell.
    »Macbeth«, sagte er. »Erster Akt, fünfte Szene.«
    »Carranza«, rief Van Upp und streckte die Hand aus.
    Noch während der Begrüßung fiel Van Upp der fragende Blick von Nora und den anderen auf. Er lächelte.
    »Ich weiß, das gehört nicht in den Bereich der Gerichtsmedizin«, sagte er zu Carranza, »aber mich interessiert Ihre Meinung. Glauben Sie, dass Abellán sich umgebracht hat?«
    »Er fällt nicht unter die Kategorie Selbstmörder«, erwiderte Carranza ohne Zögern. »Selbstmörder hinterfragen ihr Tun, und Abellán suchte den Fehler immer bei anderen. Außerdem bringt sich doch so keiner um. Man kann sich mutig ins Meer stürzen und untergehen wie ein Stein. Aber dasitzen und warten, bis einem das Wasser an den Hals reicht und weiter steigt? Das ist wider die menschliche Natur.«
    »Er hätte sich bestimmt eher im warmen Bad die Pulsadern aufgeschnitten«, warf Nora ein, »er hatte ein Faible für römische Gepflogenheiten.«
    »Sucht das Papier«, sagte Van Upp. »Ich sehe keine Zeitungen. Es muss aus einem Buch stammen.«
    Dann nahm er Carranza beim Arm und ging mit ihm hinaus in den Garten.
    Nora sah den beiden nach und seufzte.
    »Wusste jemand von dieser eigenartigen … Freundschaft?«
    »Wie sollten wir?«, erwiderte Nadal. »Wenn selbst die hiesige Expertin für Vanuppologie im Dunkeln tappt, was kann man da schon von uns erwarten?«
    XIV
    »Wie geht es Clara?«, fragte Van Upp.
    »Ich glaube, gut«, sagte Carranza.
    »Was soll das heißen, Sie glauben?«
    »Wir haben uns vor ein paar Jahren getrennt.«
    »Das wusste ich nicht. Tut mir leid.«
    »Ich wollte es Ihnen nicht sagen. Ich wollte Sie während Ihres Krankenhausaufenthalts nicht unnötig aufregen. Außerdem war es halb so schlimm. Bei einem so aufreibenden Job …«
    »Und wie geht es dem kleinen Lucas?«
    »Mein Sohn ist inzwischen erwachsen.«
    Carranza blieb stehen und betrachtete die Brille in seinen Händen.
    »Ich habe schon ewig nichts mehr von ihm gehört«, sagte er. »Ich sehe ihn nur noch auf den Fotos von früher.«
    Van Upp blieb ebenfalls stehen. Er hätte gerne etwas zu Carranza gesagt, etwas Tröstliches, aber sein Mund war wie ausgetrocknet.
    Zum Glück holte Carranza selbst ihn aus der Verlegenheit.
    »Ehrlich gesagt, habe ich das Spiel vermisst«, sagte Carranza.
    Der Ermittler sah ihn verständnislos an.
    »Das Spiel mit den Zitaten. Shakespeare«, erklärte der Gerichtsmediziner. »Man zitiert einen Vers, und der andere muss das Werk, den Akt und die Szene erraten. Aber ich bin aus der Übung. Bei der Polizei gibt es nicht viele Shakespearekenner.«
    »Da wäre ich mir nicht so sicher. Die meisten ähneln doch irgendeiner Shakespearefigur. Der Polizeichef zum Beispiel. Grausam, verschlagen, zu
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