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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit
Autoren: Marcelo Figueras
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Gefangenenlagern festgehalten. Dort fielen sie der systematischen Folter zum Opfer, die dazu diente, Informationen aus ihnen herauszupressen und ihren Geist zu brechen. Am Ende gewährte man ihnen gnädig den Tod. Eine Reihe von Massentötungsverfahren wurde ausprobiert: Gaskammern, Säurebäder. Weil dies mit Mehraufwand verbunden war und sich nur schwerlich mit der den Offizieren (im Wesentlichen Staatsbedienstete) eigenen Faulheit in Einklang bringen ließ, entschied man sich überwiegend für das Erschießen.
    Als letzte Amtshandlung ließ man die Leichen verschwinden. Ziel war es, Zweifel daran zu schüren, ob der Entführte wirklich tot war. Wenn es keine Leiche gab, gab es auch keinen Beweis für ein Verbrechen. Und wenn es kein Verbrechen gab, war nicht auszuschließen, dass die mutmaßlichen Opfer noch lebten, dass sie in Kuba um Asyl ersucht hatten oder auf den Bahamas in der Sonne lagen. Die Angehörigen der Gespenster berichteten, bei der Justiz habe man ihnen das Gefühl gegeben, sie hätten sich gerade für jemanden aus dem Fenster gelehnt, der sich Tausende von Kilometern entfernt über sie lustig machte.
     
    Damit das Regime die Kontrolle über die Leichen behielt, wählte es eine Methode, die von politischem und zugleich von unbestreitbar praktischem Nutzen war.
    Die Prätorianer veröffentlichten einen Plan zur Erweiterung des Staatsgebietes. Unter großem technischem Aufwand wollte man Land aus dem Meer gewinnen. Im Glauben, die legendäre Geschichte der sich in die Nordsee hinausschiebenden Polder auf das eigene Land übertragen zu können, stellte man holländische Fachleute ein. Unsummen wurden für den Ankauf von Erde aus nichtkommunistischen Ländern aufgewendet. Und nachts, wenn die Bagger ruhten, wurden dort die Leichen entsorgt. Manche völlig nackt, andere in Treibstofftanks verstaut.
    Nach dem Sturz des Regimes war es zu spät. Für Exhumierungen hätte man all die Häuser wieder abreißen müssen, die auf dem neu entstandenen Gelände gebaut worden waren. Doch das Interesse der neuen Regierung an der Wahrheit war nicht sonderlich groß; ihr war vor allem daran gelegen, die Wähler nicht zu vergraulen. Die Anklageschriften vergammelten in den Büros, und das Leben ging weiter seinen Gang. Die Leute nahmen es hin, dass sie über einen Friedhof spazierten, der sich über ganz Trinidad zog.
    Dieses sich schleichend ausbreitende Gefühl war der größte Sieg der Prätorianer. Etwas, was von den Eltern wortlos an ihre Kinder übermittelt wurde. Während des Regimes unterlag alles einer Methode (die Entführungen, die Folter, das Töten), bis auf die Wahl der Opfer. Politiker, Priester, Gewerkschaftsleute, aber auch Kinder, Greise, Lehrer, Schwiegermütter, Cousins und flüchtige Bekannte von Verdächtigen waren darunter gewesen. Der Finger des Todes konnte auf jeden deuten. Manchmal traf es Leute, deren bloßer Name in den Papieren eines Entführten stand. Manchmal reichte ein simpler Zufall. (Dass man zur falschen Zeit am falschen Ort war, unter Taubheit litt und die Akkorde von ›Onward, Christian Soldiers‹ nicht erkannte.) Oder ein Jugendstreich: Eine Gruppe Studenten macht sich über den Professor lustig. Sie wissen nicht, dass er bei einem Marinekorps ist. Sie werden entführt und tauchen nie wieder auf.
    XI
    Unter allen von den Prätorianern zurechtgestutzten Geschichten gibt es eine, bei der weder Folterungen noch Verstümmelungen, noch Kugeln im Vordergrund stehen. Vielleicht erklärt sie deshalb am allerbesten, warum der Schrecken so lange nachwirkt.
    Soldaten umstellen ein Haus. Sie nehmen den Mann, die Frau, die älteste Tochter und eine im sechsten Monat schwangere Cousine mit, die gerade zu Besuch ist. Aus irgendeinem, in den Berichten nicht aufgeführten Grund bleibt M, der vierjährige Sohn des Paares, verschont; sie lassen ihn bei der Großmutter. Von dem Jungen weiß man nichts weiter, als dass er sehr schweigsam ist, stundenlang vor dem Fenster sitzt und nur im Arm der Großmutter einschlafen kann.
    Jahr um Jahr verlaufen die Tage des Jungen gleich. Eines Morgens wacht er nicht mehr auf. Die Diagnose des Arztes lautet unmissverständlich auf Herzstillstand.
    Unter normalen Umständen eine eher seltene Todesursache für Kinder.
    XII
    Van Upp verbrachte den Tag zurückgezogen hinter den Jalousien in seinem Büro. Er meldete sich nur, wenn er heißes Wasser brauchte. Als Nora mit der Teekanne hereinkam (seit Van Upps Einzug hatte sich das Büro, das vorher nur Urkunden und
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