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Der Spion der Zeit

Der Spion der Zeit

Titel: Der Spion der Zeit
Autoren: Marcelo Figueras
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Familienfotos beherbergt hatte, mit exotischen Pflanzen gefüllt), bemerkte sie, dass er schon einen Blick in die Tageszeitungen geworfen hatte. Eine der Schlagzeilen war eine Anspielung auf ihn: »Ein Irrer auf der Jagd nach einem anderen Irren?«
    Am nächsten Morgen stellte Nora fest, dass Van Upp noch immer in seinem Büro war. Er hatte die Nacht dort verbracht. Es war feucht im Zimmer, und obwohl das Reinigungspersonal seine Arbeit getan hatte, roch es muffig.
    Nadal buhlte um ihre Aufmerksamkeit. Er wollte wissen, ob sie – dank ihres besonderen Drahts zum neuen Chef – nicht vielleicht wusste, was dieser vorhatte.
    Dumont bekam einen Anruf, verließ das Büro und kam eine halbe Stunde später zurück. Er kritzelte etwas auf einen Zettel und reichte ihn Nora: »Sie fragen, wie er die Sache aufgenommen hat.« Mit dem Daumen deutete er auf die oberen Etagen.
    Erst am späteren Vormittag öffnete Van Upp seine Tür. Nur einen Spalt, von ihm selbst war nichts zu sehen. Nora fragte sich, ob das ein Lockruf sein sollte, und beschloss, eine mögliche Abfuhr in Kauf zu nehmen.
    Gleich beim Eintreten spürte sie die drückende Atmosphäre, fast wie unter Wasser. Der Luftbefeuchter (ein nerviges Gerät, ähnlich einem Radio, von dem ein tiefes, rhythmisches Brummen ausging) war die ganze Nacht gelaufen. Van Upp war nirgends zu entdecken. Auf dem Schreibtisch befand sich nichts weiter als ausgebreitete Bücher, die leere große Tasse und ein paar angeknabberte Früchte: Datteln.
    »Hier bin ich«, sagte Van Upp.
    Er hockte vor dem Fenster und stapelte Zeitungen. Beim schnellen Aufstehen geriet er ins Taumeln und musste sich am Schreibtischrand festhalten.
    Er sah noch genauso aus wie an seinem ersten Arbeitstag: Er trug zwar andere Kleidung, aber immer noch dieselbe Perle an der Krawatte. Nur seine Augen waren nicht mehr hell, sie waren rot. Nora hob die Hand vor den Mund. Ob sie nicht besser einen Arzt rufen sollte?
    Van Upp ließ sich in den Sessel fallen. Einen Moment lang blieb er reglos, mit geschlossenen Augen, sitzen. Dann blickte er auf die Uhr, erschrak und holte eine bronzefarbene Pillendose aus der Tasche. Nachdem er zwei Pillen geschluckt hatte, nahm er Nora wieder wahr und wirkte schuldbewusst, wie ein kleiner Junge, der sich einen ganzen Riegel Schokolade auf einmal in den Mund geschoben hat.
    »Und wie steht’s mit Ihnen?«, fragte Van Upp. »Wie haben Sie die Zeit des Prätorianerregimes erlebt?«
    »In all den Jahren habe ich nur das Nötigste gesprochen, Dienst nach Vorschrift gemacht und mich in meiner Wohnung verbarrikadiert. Mein Spiegel sagt mir, ich hätte mich nicht sonderlich verändert, aber ich glaube ihm nicht«, sagte Nora.
    »Und welches Gefühl kommt als Erstes in Ihnen auf, wenn Sie an diese Zeit denken?«
    »Angst«, erwiderte Nora ohne Zögern. »Angst, gesehen zu werden. Angst, dass jemand mit dem Finger auf mich zeigt. Angst, ihnen nicht von Nutzen zu sein, und andererseits auch, es zu sein. Angst, es nicht mehr aushalten zu können; Angst, es weiter zu ertragen und dabei feststellen zu müssen, dass ich abgestumpft bin. Angst bei jedem Atemzug. Angst, den Verstand zu verlieren.«
    Van Upp fasste in die Blätter einer Pflanze. Als er die Hand wieder herauszog, war sie feucht; die Luftfeuchtigkeit schlug sich in Tausenden kleiner Tropfen auf dem Blattwerk nieder. Er hielt etwas in der Hand. Die Raupe lag tot auf seiner Handfläche, blauer Glanz kondensiert an einem winzigen Körper.
    »Es gibt Momente«, sagte Van Upp, »da scheint der Tod die einzige Option zu sein.«
    Die Raupe fing an sich zu bewegen. Wiederbelebt durch den zarten Anstoß des Lichts, begann sie sich zu winden.
    »Ich wäre dann bereit, mir Abelláns Haus anzusehen«, sagte Van Upp auf einmal gebieterisch. »Rufen Sie Carranza an, den Gerichtsmediziner. Wir treffen ihn dort. Vergessen Sie die Untersuchungsberichte nicht, ich will sie unterwegs lesen. Und jetzt werde ich mich ein wenig frisch machen. Und, Duarte …«, sagte er, während er die Raupe auf ein Blatt setzte.
    »Ja?«
    Van Upp deutete mit der freien Hand auf den Zeitungsstapel.
    »Schaffen Sie die weg.«
    XIII
    Um in Abelláns Arbeitszimmer zu gelangen, bedurfte es des tatkräftigen Einsatzes dreier Männer. Das Wasser hatte das Holz der Tür und des Rahmens aufquellen lassen.
    Schweigend nahmen sie drinnen die Folgen des Desasters in Augenschein. Die Tapeten lösten sich von den Wänden, die Möbel waren umgekippt oder verschoben worden, die Teppiche
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